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„Alles wird falsch gelehrt …“ – Andreas Vesalius und die Anatomie des Menschen

Andreas Vesalius kam 1514 in Brüssel als Sohn wohlhabender Eltern zur Welt. 1529 begann er ein humanistisches Studium in Löwen und lernte dort Latein, Griechisch und Hebräisch. 1533 wechselte er zum Medizin-Studium an die Universität Paris, die damals führende medizinische Schule nördlich der Alpen. 
Vesalius‘ größtes Interesse galt der Anatomie, aber das Studium enttäuschte ihn in dieser Hinsicht. Anatomie wurde aus Büchern antiker Autoren gelehrt. Sektionen vor Studenten gab es zwar, waren aber neu und wurden selten durchgeführt. Während einer Sektion las der Professor vom Katheder herab aus dem Lehrbuch vor. Ein Assistent wies den Bader oder Chirurg, der die Leichenöffnung durchführte, mit einem Zeigestock an, was zu tun und zu zeigen sei.

Die allgemein anerkannte Autorität im Fach Medizin war Galen von Pergamon (2. Jh. CE), neben Hippocrates der bedeutendste Arzt des Altertums. Allerdings hatte Galen nur selten Gelegenheit, auf oder in einen toten Menschen zu sehen. Seine begrenzten anatomischen Kenntnisse erlangte er durch die Behandlung von verwundeten Gladiatoren oder Soldaten und der Sektion von Tieren: hauptsächlich Affen und Schweine.
Fielen in Galens Werken Irrtümer auf, so erklärte man die Abweichungen damit, dass es sich um eine Missbildung des Körpers oder um einen Übersetzungsfehler handele. In Frage gestellt wurden die Texte der Antike nicht. Vesalius war unzufrieden: „Alles wird falsch gelehrt, man verschwendet ganze Tage mit absurden Fragen, und in der Verwirrung wird dem Zuschauer weniger geboten, als ein Schlachter auf seinem Marktstand einem Doktor lehren könnte.“
Weil 1536 Krieg ausbrach, kehrte Vesalius nach Löwen zurück, um dort sein Studium zu beenden. Er „besorgte“ sich Leichen und führte selbst Sektionen durch, zunächst heimlich, später auch öffentlich. Dabei bemerkte er in den anatomischen Beschreibungen Galens mehr als 200 Fehler.

1537 erhielt Vesalius einen Lehrstuhl für Anatomie und Chirurgie an der Universität Padua. Seine Fähigkeiten, seine Erfahrung, seine Reputation und nicht zuletzt sein Gehalt setzten ihn in die Lage, 1543 eines der bedeutendsten Bücher der frühen Neuzeit zu veröffentlichen: De humani corporis fabrica libri septem – eine wirklichkeitsgetreue Darstellung der Anatomie des Menschen nach eigenen Beobachtungen und Studien. Dieses Buch war sein akademisches Lebenswerk. 
Kurz nach der Veröffentlichung kehrte Vesalius der Forschung und dem akademischen Leben den Rücken und wurde Leibarzt am Hof von Kaiser Karl V., später von dessen Sohn Philipp II. 
Vesalius starb 1564 unter ungeklärten Umständen auf der Heimfahrt von einer Pilgerreise nach Jerusalem auf der griechischen Insel Zakynthos.

e humani corporis fabrica libri septem

Vesalius begann mit der Arbeit an seinem Buch um 1540, als er bereits in Norditalien lehrte. Die über 200 Holzschnitte, für die das Buch hauptsächlich auch heute noch bekannt ist, ließ er in Venedig herstellen und nach Basel transportieren. 
Es ist nicht bekannt, wer die Zeichnungen dazu anfertigte: Jan Stephan van Calcar, Tizian oder Vesalius selbst. Trotz eines kaiserlichen Privilegs konnte sich Vesalius nicht vor Plagiaten schützen, und überall erschienen jahrhundertelang Abbildungen „nach Vesal“.
Im 16. Jahrhundert entwickelte sich die Sachzeichnung als neue Form des Bildes im Buch. Das Bild war nicht mehr nur Schmuck, sondern hatte in wissenschaftlichen Werken eine Funktion für das Textverständnis. Inhalt, der sich mit Wörtern nur schwer oder ungenau beschreiben ließ, wurde erstmals optisch dargestellt. 
Schmückendes Beiwerk sind in der Fabrica die norditalienischen Landschaften im Hintergrund der aufrecht stehenden Skelette und „Muskelmänner“. Die Putten in den Initialen imitieren den Anatomen: sie stehlen Leichen, töten Tiere, kochen Knochen aus, sezieren und beraten miteinander.  

Warum Vesalius sein Buch nicht in Venedig drucken ließ, ist nicht genau bekannt. Eine häufig genannte Theorie besagt, dass sich Vesalius im evangelischen Basel dem Einfluss der Inquisition entziehen wollte. Die Fabrica enthielt neue didaktische Ansätze und Seitenhiebe auf die herrschende Lehrmeinung und der Drucker Johannes Oporinus war allen Modernitäten der Zeit gegenüber aufgeschlossen. Er riskierte sensationelle Publikationen und hatte kurz zuvor die erste lateinische Übersetzung des Korans gedruckt. Vesalius überwachte den Druck der Fabrica in Basel persönlich. Während seines Aufenthalts präparierte er ein Skelett, das auch heute noch als ältestes anatomisches Präparat im Anatomischen Museum der Universität Basel zu sehen ist.

Literatur:

  • Vesalius, Andreas: De humani corporis fabrica libri septem. – Basel : Oporinus, 1543/1555.
  • Vesalius, Andreas: The fabric oft the human body / ed. by Daniel H. Garrison … - Basel : Karger, 2014.
  • Janzin, Marion: Das Buch vom Buch. – Hannover : Schlüter, 2007.
  • Herrlinger, Robert: Geschichte der medizinischen Abbildung. – München : Moos, 1967.

Online:

  • www.e-rara.ch/doi/10.3931/e-rara-20094
  • www.vesaliusfabrica.com
  • vesalius.northwestern.edu