Universitätsbibliothek

Das verlorene Buch

Leonardo da Vincis Traktat über die Malerei

Als Leonardo da Vinci 1519 in Amboise starb, hatte er selbst nie ein Buch veröffentlicht. Er hinterließ eine unüberschaubare Menge an Notizen und Skizzen auf tausenden Seiten. Die Blätter, die heute noch erhalten sind, machen vermutlich weniger als die Hälfte dessen aus, was er im Laufe seines Lebens verfasste.

Leonardo war Linkshänder und schrieb deshalb – da leichter und flüssiger – spiegelverkehrt von rechts nach links. Er war damit kein Einzelfall, auch andere seiner Zeitgenossen schrieben so. Was er niederschrieb, waren seine Gedanken – ohne Ordnung, die Blätter meist übersät mit Notizen und Skizzen zu verschiedensten Themen. Nur in sehr seltenen Fällen sind die Inhalte so zusammengestellt, dass sie das Vorhaben einer späteren Veröffentlichung vermuten lassen. Trotz der Bezeichnung „Codices“ handelt es sich bei den erhaltenen Manuskripten inhaltlich und zeitlich um sehr heterogene Sammlungen.

Leonardo sah die Malerei als Wissenschaft – es ist bekannt, dass er zumindest ein Buch über Malerei vorgehabt hatte. Der Pariser Codex C – „Das Buch von Licht und Schatten“ – ist stofflich relativ wohlgeordnet und könnte als Kapitel des Buches geplant gewesen sein. Es ist aber keine Reinschrift zur Veröffentlichung und enthält auch Notizen zu anderen Themen.

Seine Zeichnungen und Manuskripte vermachte Leonardo seinem Schüler Francesco Melzi, der ihn 1517 nach Frankreich begleitet hatte. Melzi kehrte nach Italien zurück und stellte aus 18 Notizbüchern Leonardos das Buch über die Malerei „Trattato della Pittura“ zusammen, wobei er auf einige Vorarbeiten Leonardos zurückgreifen konnte. Die vollständigste Abschrift davon ist der Codex Urbinas, der auf teilweise unbekannten Wegen 1657 in die Vatikanische Apostolische Bibliothek gelangte, wo er sich noch heute befindet. Der Text der Handschrift wurde erstmals 1817 veröffentlicht.

Trotzdem ist nicht überliefert, wie Leonardo das „Buch über die Malerei“ konzipieren wollte. Seit 1651 sind mehr als 60 gedruckte Ausgaben in verschiedenen Sprachen erschienen und jeder Bearbeiter hat das Material nach eigenen Gesichtspunkten geordnet. Jede Ausgabe war nur der Versuch, aus der Stoffsammlung eine Gesamtfassung herzustellen.

Nach Francesco Melzis Tod 1570 zerstreuten sich Leonardos Manuskripte. Melzis Erben hatten kein Interesse an Leonardos Nachlass, erkannten die Bedeutung nicht und lagerten die Papiere achtlos auf dem Dachboden, und vieles ging zu dieser Zeit verloren. Der Bildhauer und Kunstsammler Pompeo Leoni erkannte Ende des 16. Jahrhunderts als einer der ersten die Bedeutung von Leonardos Aufzeichnungen. Nach und nach konnte er einen großen Teil der Manuskripte wieder zusammentragen. Auch Leoni versuchte das ihm vorliegenden Material zu ordnen. Er nahm es dazu auseinander, zerschnitt einzelne Blätter und setzte die Teile neu zusammen. Daraus entstand der Codex Atlanticus. Leoni starb 1608 in Madrid und die Sammlung wurde durch eine Reihe von Verkäufen in Madrid und Mailand wieder auseinandergerissen.