Osteuropäische Geschichte und Landeskunde

Forschungsschwerpunkte des Instituts

Die laufenden Forschungen des Instituts beschäftigen sich mit der Geschichte Russlands und der Sowjetunion vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Darüber hinaus richtet sich der Blick auf die Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas im 19. und 20. Jahrhundert. In ihren meist interdisziplinär angelegten Forschungsarbeiten greifen die Mitarbeiter*innen des Instituts Ansätze und Zugänge der Sozial- und Kulturwissenschaften auf und behandeln Themen wie Umwelt und Klima, Bedrohungen und Katastrophen, Krieg und Gesellschaft, Familie und Kindheit, Nation und Ethnizität, Migration und Verflechtung, Sprache und Kultur. (Laufende Disserationen und Habilitationen / Abgeschlossene Dissertationen und Habilitationen)

Zwischen 1999 und 2008 spielte an der Universität Tübingen der Sonderforschungsbereich 437 "Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" eine wichtige Rolle. An ihm war das Institut unter der Leitung des damaligen Direktors Prof. Dr. Dietrich Beyrau maßgeblich beteiligt. Seit 2011 leiten Prof. Dr. Klaus Gestwa und Dr. Katharina Kucher Teilprojekte im Rahmen des neuen Sonderforschungsbereichs 923 "Bedrohte Ordnungen".

Gemeinsam mit den Sonderforschungsbereichen und privaten Förderern organisieren die Institutsmitarbeiter*innen regelmäßig internationale Konferenzen und Workshops und leisten so einen gewichtigen Beitrag für den wissenschaftlichen Austausch zwischen Tübingen und der internationalen Osteuropaforschung.

Das Institut kooperiert mit zahlreichen ausländischen Universitäten und bringt sich mit seinen Vorhaben in transnationale Forschernetzwerke ein. Diese guten Beziehungen reichen von Russland und Zentralasien über Ostmittel- und Südosteuropa bis hin zu Frankreich, Großbritannien und den USA. Dank der finanziellen Unterstützung verschiedener Stiftungen lädt das Institut regelmäßig zahlreiche Historiker*innen aus den Ländern Ost- und Westeuropas sowie aus den USA zur Forschungsaufenthalten ein und koordiniert internationale Forschungs- und Editionsprojekte. (Gäste und Stipendiaten des Instituts)


Laufende Forschungsprojekte

Projekttitel: Die Blaue Lilie: Ursprünge der ukrainischen Avantgarde

Projekttitel

Die Blaue Lilie: Ursprünge der ukrainischen Avantgarde

Projektbearbeiterin

Ph.D. Viktoria Lowack

Projektbetreuung

Prof. Dr. Klaus Gestwa

 

Abstract

Die ukrainische künstlerische Avantgarde ist eine Perle der Weltkultur. Dutzende ukrainische Künstler:innen der Spitzenklasse (Exter, Volodymyr und David Burliuk, Bohomazov) werden allerdings im Westen und insbesondere in Deutschland als russische Künstler:innen wahrgenommen. Die ukrainische Kulturgeschichte ist im Blickfeld deutscher Wissenschaftler:innen kaum präsent, obwohl gerade die Ukrainer:innen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl über ein starkes kulturelles Erbe verfügten als auch großen Einfluss auf die Herausbildung der späteren, als “russisch“ bekanntgewordenen Avantgarde nahmen. Als markantes Beispiel dafür lässt sich David Burliuk anführen. Als „Vater des russischen Futurismus“ gründete er mit Gilea die erste futuristische Vereinigung des Russischen Reiches, die im ukrainischen Dorf Tschornjanka in der Region Cherson entstand. Zudem verkehrte die gesamte kulturelle Elite des damaligen Russischen Reiches (u.a. Livshits, Majakovski, Chlebnikov, Kruchenykh und Pasternak) auf dem Landsitz Krasna Poljana in der Nähe von Charkiw. Dieser gehörte der Familie der Schwestern Synjakowa, die zu Musen der russischen Futurist:innen wurden.
Die Schwestern Synjakowa, wie auch viele andere bekannte ukrainische Kulturträger:innen, begannen ihre künstlerische Laufbahn im Atelier der Blauen Lilie. In diesem Forschungsprojekt richtet sich der Blick auf dieses Atelier und die die spätere Künstler:innenvereinigung Blaue Lilie als außergewöhnliches Phänomen des ukrainischen Modernismus. Die 1907 von Yevgen Agafonov gegründete Blaue Lilie beeinflusste die künstlerische, literarische und theatralische Landschaft von Charkiw und wirkte damit als wichtiger Vorläufer der Avantgarde in der Ukraine.
Von einer soliden Quellengrundlage aus wird das Forschungsprojekt einer Reihe von Fragen nachgehen, die sich sowohl auf das Atelier Blaue Lilie selbst als auch auf den breiteren Wirkungskontext beziehen, in dem sich seine Aktivitäten entfalteten. Was für eine Art von künstlerischer Vereinigung war die Blaue Lilie und wie entwickelte sie sich zu einem Ursprungsort der Avantgardekunst in der Ukraine? Welche künstlerischen Bewegungen, Stile und Ideen beeinflussten die Künstler:innen, die das Atelier besuchten? Welchen Einfluss hatte das Wirken der Mitglieder der Blauen Lilie auf die künstlerischen und kulturellen Prozesse der damaligen Zeit? Warum hat Yevgen Agafonov, den Ilja Repin zu seinen erfolgreichsten Schülern zählte, in der Ukraine und im Ausland so wenig Beachtung gefunden?
An diese kunstgeschichtlichen Forschungsfragen schließen sich sozial- und kulturhistorische Aufgabenstellungen an. Sie beziehen sich zum einen auf die Rolle, die das urbane Umfeld der sich damals rasant entwickelnden Stadt Charkiw spielte, die in den 1920er Jahren zum Zentrum der Avantgardebewegung werden sollte. Zum anderen muss plausibel erläutert werden, wie das Atelier auf das damalige, allmählich an Schwung gewinnende ukrainische nation building einwirkte. Das rückt schließlich das Thema der durch die imperiale Unterdrückung gehemmten kulturellen Entwicklung in den Fokus, um so belastbare Aussagen zur gerade vieldiskutierten Frage des kolonialen Status der Ukraine im Russischen Reich zur Diskussion zu stellen. Ein wichtiges Anliegen des Projekts ist es schließlich, die vielfältigen und beeindruckenden künstlerischen Aktivitäten der Blauen Lilie im größeren Kontext der europäischen Kulturgeschichte zu verorten und so der ukrainischen Kunst mehr internationale Sichtbarkeit zu geben.

Psychoboom im Postkommunismus: Transformationen von Gesellschaft und Seele in Russland

Projekttitel:

Psychoboom im Postkommunismus: Transformationen von Gesellschaft und Seele in Russland

Projektbearbeiterin:

Dr. Alexa von Winning

Projektbetreuung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa

Abstract:

Der Epochenbruch in Russland 1989/1991 bewirkte nicht nur auf politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ebenen fundamentale Umwälzungen, sondern auch in individuellen Lebensläufen und Lebenswelten. Langgehegte Überzeugungen wurden in Frage gestellt, ganze Lebensleistungen entwertet, Selbstentwürfe gingen verloren. Für viele Menschen bedeuteten diese Umbrüche eine erhebliche seelische Belastung. Eine Gesprächspartnerin von Swetlana Alexiewitsch bemerkte melancholisch: „Kaum jemand von uns ist geblieben, wie er war.“

Viele Menschen suchten Halt und Orientierung in den überall neu eröffnenden Kirchen. Andere griffen zu psychologischen Angeboten aller Art und besuchten esoterische Wunderheiler und Gurus, lasen Ratgeber, buchten Führungsseminare oder schlossen sich Selbsthilfegruppen an. Diese im weitesten Sinne therapeutischen Angebote bauten zum Teil auf Praktiken der Selbstführung und Selbstsorge auf, die in der Sowjetunion bereits vor 1985 eine Rolle gespielt hatten. Vor allem aber nutzten findige Anbieter:innen, oftmals ohne psychologische Ausbildung, die Öffnung des Unterhaltungsmarkts und der staatlichen Gesundheitsversorgung. Zugleich kamen mit den politischen Veränderungen Ausläufer der westlichen „Therapeutisierung“ oder „Psychologisierung“ nach Russland.

Das Forschungsprojekt untersucht die Bedeutung von Psychowissen und populär-psychologischen Angeboten in Russlands Transformationsjahren von 1985 bis 2000. Welche Rolle spielte das Sprechen von der Psyche für die Deutung und Verhandlung der individuellen und gesellschaftlichen Transformationserfahrungen? Ziel ist es, das Mischungsverhältnis des russischen Psychobooms genauer zu bestimmen: Wieviel sowjetisches Erbe steckte ihn ihm, welchen Anteil hatten postkommunistische Erfahrungen und wie stark bestimmten westliche Transfers und Adaptationen seine Entwicklung?

Werner Markert und die Anfänge der Osteuropaforschung an der Universität Tübingen

Projekttitel:

Alte Kameraden und neues Geld. Werner Markert und die Anfänge der Osteuropaforschung an der Universität Tübingen (Arbeitstitel)

Projektbearbeiter:

Thorsten Zachary

Projektbetreuung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa (Erstbetreuer), PD Dr. Katharina Kucher (Zweitbetreuerin)

Abstract:

Provenienzforschungen zu einer Urkunde Peters des Großen wiesen nach, dass das prächtige Originaldokument höchstwahrscheinlich von deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg aus Kiew verschleppt worden war und schließlich über Kanäle Werner Markerts (1905–1965) in den 1950er-Jahren nach Tübingen gelangte. Diese Recherchen verdeutlichten, dass die Geschichte des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen sowie seiner Materialbestände eingehender untersucht werden muss.

Ziel des Dissertationsprojektes ist es, die personellen und wissenschaftsgeschichtlichen Gründungskontexte des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde entlang der Biografie des Gründungsdirektors Werner Markert aufzuarbeiten. Darüber hinaus wird die Provenienz bestimmter Materialien (vor allem Bücher und Karten) geklärt, die sich im Besitz des Instituts befinden und im Verdacht stehen, als NS-Raubgut ihren Weg nach Tübingen gefunden zu haben. Die Dissertation leistet damit nicht nur einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des Kalten Krieges, sondern auch zu einer kritischen Universitätsgeschichte, die problematische Aspekte der Gründungskontexte des Instituts beleuchtet.

Der Historiker Werner Markert leitete das Institut von seiner Einrichtung im Jahr 1953 bis zu seinem Tod 1965. Markert war bereits 1951 vom Bundesministerium des Innern zum Leiter der Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung (AfO) ernannt worden und damit Chef eines Großprojekts, um ein neues, mehrbändiges „Osteuropa-Handbuchs“ abzuschließen. Als Institutsdirektor und Leiter der AfO wurde Markert zu einem der einflussreichsten Professoren an der Universität Tübingen. Auch jenseits der schwäbischen Kleinstadt galt er als ein geachteter Kollege, der als Wissenschaftsorganisator weit über Fachgrenzen hinaus Einfluss ausübte.  

Dass Markert eine derart herausgehobene Stellung innerhalb der Zunft der Historiker:innen überhaupt erreichen konnte, ist ebenso erstaunlich wie erklärungsbedürftig. Denn im Gegensatz zu den meisten seiner Kolleg:innen war seine wissenschaftliche Produktivität, gerade mit Blick auf eigene Veröffentlichungen, vergleichsweise niedrig. Bis Ende der 1940er-Jahre gehörte er auch nicht zu dem engeren Kreis historischer Fachvertreter:innen, der sich mit hohepriesterlich anmutendem Habitus der Geschicke der Geschichtswissenschaft annahm.

Genauso wie das Ende des Zweiten Weltkrieges keinen grundlegenden Neubeginn für die deutsche Gesellschaft bedeutete, stellte es für die Ost(europa)forschung keinen personellen, strukturellen oder konzeptionellen Neuanfang dar. Die politische Großwetterlage hatte sich zwar verändert; die Frage nach der erneuten (Selbst-)Mobilisierung und Indienststellung des Faches im Rahmen politischer „Feindbeobachtung“ stand wegen des aufziehenden Kalten Krieges und nicht abschließend geklärter Grenzfragen jedoch weiterhin im Raum. Markert, der sein Studium Ende der 1920er-Jahre in Leipzig beendete, musste sich in diesem Geflecht aus Wissenschaft und Politik während seiner Karriere immer wieder gut positionieren. Nachdem der als „Salonbolschewist“ gebrandmarkte Otto Hoetzsch von den NS-Behörden aus seinen Ämtern gedrängt worden war, übernahm Markert 1933/34 dessen Funktionen als Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropa (heute: DGO) und Schriftleiter der Fachzeitschrift OSTEUROPA. Während des Krieges sah sich Markert als Sonderführer der militärischen Abwehr mit der Frage konfrontiert, inwieweit er seine wissenschaftliche Expertise für deutsche Militär- und Besatzungseinheiten unmittelbar nutzbar machen konnte. Als sich das Fach in der Nachkriegszeit zu (re-)konstituieren versuchte, musste sich Markert im Konflikt zwischen deutschtümelnder Ostforschung und wissenschaftlich orientierter Osteuropaforschung positionieren.

Ersten Erkenntnissen zufolge lag es an drei „Erfolgsbedingungen“, dass Markert innerhalb nur weniger Jahre nicht nur ein arrivierter Lehrstuhlinhaber werden konnte, sondern auch zu einer der „grauen Eminenzen“ der Ost(europa)forschung und deutschen Geschichtswissenschaft aufsteigen konnte:

  • an seinem opportunistischen Gespür für die politischen Rahmenbedingungen und die Forschungsbedürfnisse politischer Stellen, auf die hin er seine wissenschaftlichen Tätigkeitsschwerpunkte anpasste;
  • an seiner Offenheit gegenüber politisch initiierter Ressortforschung für Ministerien und Sicherheitsbehörden;
  • an seiner Bereitschaft, sich von Kolleg:innen, alten Kriegskameraden und Jugendfreunden zuarbeiten und mit Material zu versorgen lassen, die wegen ihrer Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus als schwer belastet gelten müssen und die er im Gegenzug finanziell unterstützte sowie deren Karrieren protegierte.

Diese Zuarbeiten und Materialbelieferungen ermöglichten es Werner Markert, die Arbeitsgemeinschaft und das Institut zu einer angesehenen Einrichtung des Faches in der Bundesrepublik auszubauen. Dabei zeigt die Untersuchung der Inventarbestände des Instituts bisher zwar, dass Ankäufe prächtiger Einzelstücke, wie etwa der Urkunde Peters I., die Ausnahme darstellten. Allerdings gab es in der Gründungsphase des Instituts umfangreiche Ankäufe von Büchern und Karten, die aus zweifelhaften Kanälen stammen. Markert waren diese problematischen Beschaffungskontexte klar; er nahm sie aber bewusst in Kauf, um den Erfolg der Institutsarbeit nicht zu gefährden.

Zwischen Estland und der Welt (2021-2023)

Projekttitel:

Zwischen Estland und der Welt. Mobile Lebenswege und globale Verflechtungen des Familiennetzwerkes Krusenstern-Kotzebue, 1790-1860

Projektleitung:

Dr. Anna Ananieva, Prof. Dr. Klaus Gestwa, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Förderung:

2021-2023: Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM)

Abstract:

Das Forschungsvorhaben untersucht die globalen Verflechtungen deutschsprachiger Akteure aus Estland. Als Migrant*innen unterschiedlicher Generationen bauten Männer und Frauen der Familien Krusenstern und Kotzebue während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weltumspannende Verbindungen auf. Diese erstreckten sich von Tallinn (Reval) aus bis nach Boston und New York, Teheran und Kanton, Hawaii und Alaska.

Durch die Rekonstruktion und Auswertung der schriftlichen, größtenteils unveröffentlichten Quellenzeugnisse wird das Projekt das Wirkungspotenzial des Familiennetzwerkes der Krusensterns und Kotzebues aufzeigen, das seine sichtbarsten Spuren mit topographischen Bezeichnungen auf den modernen Weltkarten hinterließ.

In seinem methodischen Vorgehen verbindet die Untersuchung die mikrohistorische Ebene der individualen Lebenswelten mit den Makrostrukturen einer Globalgeschichte im Zeitalter der imperialen Expansion. Mit dem Fokus auf die mittlere Ebene der Kommunikationswege des Familiennetzwerkes lassen sich Rückschlüsse über Handlungsoptionen ziehen sowie die jeweiligen Lebensverläufe und Zugehörigkeitsentwürfe nachzeichnen.

Das Projekt konzentriert sich auf zwei Generationen. Zu den älteren männlichen Mitgliedern zählen August von Kotzebue und Adam von Krusenstern, zur jüngeren Generation Otto und Moritz von Kotzebue sowie Paul von Krusenstern. Die Akteursperspektive wird außerdem durch die programmatische Berücksichtigung weiblicher Familienmitglieder gezielt erweitert.

EnviroHealth: Umwelt und Gesundheit in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten (2021-2024)

Projekttitel:

Umwelt und Gesundheit in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten.Toxische Welt und ökologischer Körper, 1945–2000

The Ecological Body in a Toxic World. Environment and Health in the Soviet Union and Its Successor States, 1945–2000

Projektleitung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa, Dr. Marc Elie (Paris)

Projektbearbeitung: Irina Andryushchenko, Marin Coudreau (Paris)

Kompetenzteams: Alexa von Winning, Jan Arend, Henning Tümmers, Timm Schönfelder (Leipzig), Laurent Coumel (Paris), Sophie Hohmann (Paris), Cécile Lefèvre (Paris), Grégory Dufaud (Lyon), Sylvain Dufraisse (Nantes)

Förderung:

2021–2024: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und Agence Nationale de la Recherche (ANR)

Abstract:

Das Kooperationsprojekt setzt mit dem neuen Schwerpunkt „Umwelt und Gesundheit“ die erfolgreiche Forschungsarbeit der ersten Förderphase (Umweltzeitgeschichte der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten, 1970–2000. Ökologische Globalisierung und regionale Dynamiken) fort. Es geht von der Besonderheit der spät- und postsowjetischen Gesundheits- und Umweltgeschichte aus. Diese ist geprägt vom Ineinandergreifen des aufkommenden ökologischen Notstands, der Wiederkehr von Infektionskrankheiten und der Erosion des sowjetischen Gesundheitssystems. Im Zug der Expansion von Industrie und Landwirtschaft lagerten sich immer mehr toxische Substanzen in der Umwelt ab, die von hier über natürliche Stoffwechsel in den menschlichen Körper gelangten und so das allgemeine Wohlergehen bedrohten.

Im Mittelpunkt des Kooperationsprojekts stehen drei Teiluntersuchungen

  • zur Chemisierung der Landwirtschaft (Marin Coudreau),
  • zur Geschichte der Krebsforschung (Irina Andryushchenko),
  • zur Luftverschmutzung (Marc Elie/Klaus Gestwa).

Die regionalen Fallstudien der Teiluntersuchungen decken den (post)sowjetischen Raum breit ab (Russland, Ukraine und Kasachstan).

Es werden drei übergeordnete inhaltliche Ziele verfolgt:

  1. zu untersuchen, wie politische Entscheidungen und wirtschaftliche Prozesse toxische Mensch-Natur-Verhältnisse und damit „inescapable ecologies“ schufen;
  2. zu erforschen, wie individuelle und kollektive Akteur*innen in ihren bedrohten Lebenswelten das Ausgeliefert- und Kranksein erlebten und wie sie ihre Betroffenheit in soziales Handeln übertrugen;
  3. den historischen Ort der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten in der im Aufbruch befindlichen Forschungslandschaft (Envirohealth) näher zu bestimmen, um mit einer East Side Story jenseits des bislang dominierenden westlichen Modells Differenzen angemessen zu berücksichtigen.

Das Kooperationsprojekt verbindet oft separat gehandhabte Ansätze zu einem kohärenten Forschungsdesign. Dazu zählen Zugänge der Wissens-, Gender- und Körpergeschichte sowie die Konzepte der „Biological Citizenship“ und „Environmental Justice“.

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The collaborative project builds on the successful experience of the first funding phase (Environmental contemporary History of the Soviet Union and its Successor States, 1970-2000. Ecological Globalization and regional Dynamics) and offers a new focus on health and the environment. It sets out to explore the unique characteristics of the late and post-Soviet history of health and environment, marked by the concurrence of ecological calamities, a deep crisis of the eroding Soviet healthcare system, a reappearance of infectious diseases and a surge in chronic afflictions. In the course of intensified industrial and agrarian development, toxic substances accumulated in the environment and made their way into human bodies, eventually threatening public well-being.

Three contributing investigations provide interlocking perspectives on this topic. They broadly cover the (post)Soviet region with Russia, Ukraine and Kazakhstan and have in view the following themes:

  • the chemicalisation of agriculture (Marin Coudreau),
  • the history of cancer (Irina Andryushchenko),
  • air pollution (Marc Elie/Klaus Gestwa).

Three overarching objectives link the contributing investigations:

  1. investigate how political decisions and economic processes created toxic relationships between humans and nature and hence “inescapable ecologies” (political and social history);
  2. examine how individual and collective actors experienced exposure to toxins and sickness and how they turned their dismay into social action (history of experience); and
  3. determine the historical place of the Soviet Union and its successor states within the research field envirohealth and consider how an “East Side Story” gives access to processes, phenomena and problems that fall through the analytical grid created for Western societies (comparative and transnational history)

The cooperation project combines separately handled approaches to a coherent research design. This includes approaches to the history of knowledge, gender and body history as well as the concepts of "biological citizenship" and "environmental justice".

Stress im Spät- und Postsozialismus (2018–2024)

Zum gesellschaftliche Umgang mit Belastungserfahrungen in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei/Tschechien 1970-2010

Projekttitel (Habilitationsprojekt):

Stress im Spät- und Postsozialismus. Zum gesellschaftlichen Umgang mit Belastungserfahrungen in der Tschechoslowakei/Tschechien und in der Sowjetunion/Russland 1970-2010.

Projektleitung:

Dr. Jan Arend (Eigene Stelle)

Förderung:

2018–2024: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Abstract:

Das Projekt untersucht am Beispiel der Tschechoslowakei/Tschechiens und der Sowjetunion/Russlands den gesellschaftlichen Umgang mit Stress. "Stress" wird dabei als konkreter Quellenbegriff verstanden, der sich im staatssozialistischen Kontext seit den 1970er Jahren vielfach nachweisen lässt und Belastungserscheinungen bezeichnet, die sich sowohl körperlich als auch psychisch manifestieren. Im Spät- und Postsozialismus zog Stress einerseits das Interesse von Experten aus Medizin und Psychologie auf sich; andererseits wurde er für große Teile der Bevölkerung zu einer emotionalen Leiterfahrung des gesellschaftlichen Umbruchs. Das Projekt analysiert für den Zeitraum zwischen ungefähr 1970 und 2010 stressbezogene Praktiken und Diskurse und fragt nach deren gesellschaftlichen und politischen Funktionen.

Die historische Forschung hat Stress bislang überwiegend als Reaktion auf kapitalistische Lebens- und Arbeitsverhältnisse gedeutet und den Themenkomplex deshalb kulturell im Westen verortet. Dabei bleibt weitgehend unberücksichtigt, dass Stress seit den 1970er Jahren zunehmend auch in den staatssozialistischen Gesellschaften östlich des "Eisernen Vorhangs" als Problem wahrgenommen und debattiert wurde. Des Weiteren ist der Aufstieg von Stress zu einem bestimmenden gesellschaftlichen Thema in den Transformationsgesellschaften nach 1989/90 bislang nicht genügend erforscht worden. Dieses Projekt füllt diese Forschungslücke. Es beleuchtet damit einen zentralen, von den Zeitgenossen oft bemerkten Aspekt der Transformationserfahrung. Auf diese Weise leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der gesellschaftlichen Umbrüche vom Plan zum Markt.

Kulturgeschichte der Eleganz (2012–2022)

Projekttitel:

Kulturgeschichte der Eleganz: Ästhetisierung des Lebens im langen 19. Jahrhundert / Aestheticization of Life and Cosmopolitan Modernity: The Poetics of Elegance in the Long 19th Century

Projektbearbeiter:

Dr. Anna Ananieva (Habilitationsprojekt)

Förderung:

2012–2015: Nachwuchsförderprogramm der Universität Tübingen

2016–2018: Marie Skłodowska-Curie-Maßnahmen des EU-Programms „Horizont 2020 - Rahmenprogramm für Forschung und Innovation“

Abstract (English version below):

Unter dem Vorzeichen des Eleganten formiert sich im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts ein Phänomen, das eine Steigerung des Lebens durch Ästhetisierung verspricht. Die sozialen und ästhetischen Effekte der Eleganz kommen in der Verwirklichung eines Lebensstils zum Vorschein, der sich durch Urbanität und Modernität auszeichnet. Die äußeren Merkmale einer eleganten Erscheinung entfalten sich in der Präsentation einer Person (Sprache, Kleidung, Habitus) und in der Gestaltung der privaten und öffentlichen Lebensräume (Interieur, Architektur). Unter den Bedingungen von kommunikativer Rückerstattung und performativer Umsetzung verdichten sie sich zu einem lebensstilbildenden Konzept und werden im sozialen Handeln durch die Beteiligung an spezifischen kulturellen Praktiken, insbesondere der Geselligkeit, Unterhaltung und Freizeit, realisiert.

Das Forschungsvorhaben geht den sozialen und medialen Konstellationen sowie den kulturhistorischen Szenarien der Eleganz nach. Die vielfältigen Strategien von Ästhetisierung des Lebens werden in ihrer jeweils markanten historischen Form erfasst und analytisch rekonstruiert. Den Ansätzen einer transnationalen Geschichtsschreibung verpflichtet, kartiert das Vorhaben eine europäische Topografie der ‚eleganten Welt’. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen zirkulierende Medien, allen voran Zeitungen und Zeitschriften. Sie berichten ausführlich über die urbanen Lebenswelten in europäischen Metropolen und sind maßgeblich, so die These des Vorhabens, an der Erzeugung von Inszenierungswerten einer neuen eleganten Gemeinschaft beteiligt. Insbesondere trägt der neue Typus der belletristischen Zeitung zu einer Ästhetisierung des Lebens bei, indem er den kulturellen Konsum - von der materiellen Kultur über gesellige Praktiken bis hin zu Musik, Dichtung und Philosophie - in den Mittelpunkt eigener medialer Praktiken stellt. Das Potenzial solcher vermittelter Konzepte der Eleganz und ihrer Inszenierungswerte wird über die Printmedien hinaus anhand von Bildmedien und Sachkultur ausgelotet.

English version:

Aestheticization of Life and Cosmopolitan Modernity: The Poetics of Elegance in the Long 19th Century”In the course of the long 19th century the pursuit of ‘elegance’ emerged as a phenomenon aiming at an intensification of life through aestheticization. The distinguishing features of an elegant appearance manifested themselves in the self-fashioning of an individual person (language, attire, behaviour) and in the shaping of domestic and public environments (artefacts, interior design, architecture). The concept of elegance was realized in social action and cultural practices, particularly in convivial conversation, entertainment and leisure activities. The research project “The Poetics of Elegance in the Long 19th Century” demonstrates that one of the crucial patterns of modernity manifests itself in the phenomenon of elegance, which inaugurates a specific aesthetic of the surface as a distinguishing social feature as well as a marker transcending the established order: an imaginary community of urban origin that supersedes historically conditioned social and gender norms.

The research project combines cultural and historical studies in an interdisciplinary approach to explore the various social and medial scenarios of elegance. Committed to the methods of transnational historiography, the study outlines the European topography of the so-called ‘elegant world’ in the tension between national aspirations and transnational aesthetic norms. The project focuses on ‘circulating things’, in particular print culture, along with objects of material culture. It pays particular attention to an innovative type of general interest magazines and cultural journals, which reported in detail on urban social, cultural, and material life and helped spread the new urban styles of living and had a decisive impact on the staging of a new, imaginary cross-border community. Its geographic range is marked by the imperial metropolises of London, Paris, Vienna, and Saint Petersburg, as well as by aspiring Central and Eastern European cities such as Berlin and Leipzig, Prague and Pest, which developed into new urban centres in the course of the 19th century. The transnational style of elegance arose at the very time when nationalism gained currency in many European countries. It thus articulated the ambivalent identity of European elites, which saw themselves as belonging at once to national traditions and to an emerging transnational urban culture.

Webseite:

http://www.poeteleg.eu/

Abgeschlossene Forschungsprojekte

NucTechPol: Nukleare Technopolitik in der Sowjetunion (2017–2020)

Projekttitel:

Strahlende Zukunft. Nukleare Technopolitik in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten seit 1949

Projektleitung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa, Prof. Dr. Tanja Penter (Heidelberg), Prof. Dr. Julia Richers (Bern)

Projektbearbeiter: Dr. Stefan Guth, Roman Khandozhko, Fabian Lüscher (Bern), Laura Sembritzki (Heidelberg)

Förderung:

2017–2020: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

2017–2020: Schweizer Nationalfonds (SNF)

Abstract:

Wie keine andere Technologie veranschaulicht die Atomkraft die Ambivalenz der Hochmoderne. In der Geschichte der Sowjetunion spielte sie eine herausragende Rolle, indem sie anfangs ihren Aufstieg zur Supermacht beschleunigte und ihre Zukunftsvisionen bestärkte, später dann aber unter dem Eindruck der Katastrophe von Tschernobyl ihren Niedergang vorantrieb.

Vor diesem Hintergrund ist die sowjetische Nukleargeschichte seit dem Zerfall der UdSSR sowohl in der breiten Öffentlichkeit wie auch in der Forschung auf lebhaftes Interesse gestoßen. Die frühe Forschung konzentrierte sich stark auf „Stalin und die Bombe“ (D. Holloway), während neuere Studien sich besonders mit der Tschernobyl-Katastrophe, ihrer Vorgeschichte und ihren Konsequenzen auseinandersetzen. Gleichzeitig hat die Entwicklung des sowjetischen und postsowjetischen Nuklearsektors, dessen Forschungs- und Produktionsinfrastruktur sowie seiner internationaler Verflechtung der 1960er und 1970er Jahre sowie nach 1991 weit weniger Aufmerksamkeit erhalten. Die vier vernetzten Projekte, die das NucTechPol-Forschungscluster bilden, werden dazu beitragen, diese Leerstellen mit substantiellen Forschungserträgen auszufüllen.

Alle vier Teilprojekte machen sich das Potential der Nukleargeschichte zunutze, Schlüsselerkenntnisse zur komplexen Vernetzung von Technologie, Politik, Gesellschaft und Umwelt zu generieren, die für die Ära der Hochmoderne kennzeichnend ist. Dabei soll NucTechPol den Forschungsstand in dreierlei Hinsicht vorantreiben:

  • Integrativer Zugang: Die Teilstudien des Projekts setzen sich zum Ziel, die bisher oft getrennt analysierten technologischen, ökologischen, politischen und kulturellen Dimensionen des Themas enger aufeinander zu beziehen. Neue methodische Zugänge wie das Konzept der „Technopolitics“ (Gabrielle Hecht) oder der „Envirotech“-Ansatz (Sara Pritchard) bilden dafür eine tragfähige Basis. Jedes Teilprojekt wird mindestens zwei dieser Dimensionen behandeln. Erstaunlicherweise hat der technopolitische Ansatz in der sowjetischen Geschichte noch kaum Beachtung gefunden, obschon Politologen das späte Sowjetsystem bereits vor Jahrzehnten als „technocratic socialism“ charakterisiert haben.
  • Langzeit-Perspektive: Durch das Prisma der Nukleargeschichte eröffnet das Projekt eine Langzeitperspektive auf die zweite Hälfte der Sowjetgeschichte und darüber hinaus – und mithin auf einen Zeitraum, der bislang meist in chronologischer Fragmentierung untersucht worden ist. Als Modernisierungsvorhaben, das fest ins Gefüge des sowjetischen Projekts einbetoniert wurde (G. Hecht), bestimmte das Atomprogramm politische, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen in gewollter und unerwarteter Weise tiefgreifend und nachhaltig. Indem die Wechselwirkung zwischen nuklearer Technoscience und Politik, zwischen Fortschrittsvisionen und Untergangsszenarien untersucht wird, können aufschlussreiche Einsichten in die Kräfte gewonnen werden, die das Zukunftsversprechen der Sowjetmoderne zunächst wesentlich mittrugen und später entscheidend unterminierten, die heute aber erneut in den Mittelpunkt postsowjetischer Fortschrittsvisionen gerückt sind. Alle im Projekt vereinten Forschungsvorhaben sind so angelegt, dass sie einschneidende chronologische Zäsuren der sowjetischen Geschichte – etwa die Jahre 1953 und 1991 – überspannen und so hinter den Brücken auch Kontinuitäten sichtbar machen.
  • Mehrebenen-Analyse: Das Projekt ist als Mehrebenen-Untersuchung zur sowjetischen Technopolitik in ihren lokalen, unionsweiten und internationalen Bezügen angelegt. Alle Teilstudien setzen sich zum Ziel, die Mikrologik „technologischen Handelns“ in nuklearen Forschungs- und Produktionszentren mit der Makrologik der sowjetischen und globalen Politik des Kalten Kriegs zu verknüpfen. Dass alle Studien lokal verortet sind, ermöglicht nicht nur ein „close reading“ des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes, sondern verbessert auch den Zugang zum Quellenmaterial erheblich. Mit Bezug auf die gesamtsowjetische Ebene begreift die Studie die Sowjetunion als Ermöglichungsraum, der durch ungleich verteilte Chancen und Risiken gekennzeichnet war – eine Perspektive, die weiter hervorgehoben wird, indem postsowjetische Entwicklungen einbezogen werden. Indem sie explizit auch grenzüberschreitende Bezüge in den Blick nehmen, werden sämtliche Teilstudien schließlich auch dazu beitragen, die sowjetische Nukleargeschichte in den transnationalen Kontext der entangled history einzubeschreiben und mithin dazu beitragen, den historischen Ort Osteuropas in der Globalgeschichte der Hochmoderne klarer zu bestimmen.
Tübinger Teilprojekte:
Webseite:

https://www.nuctechpol.org/

Kinderfürsorge im Gouvernement Tambov (2017–2018)

Projekttitel:

Kinderfürsorge im Gouvernement Tambov. Zu den Anfängen von Sozialstaatlichkeit im Russischen Reich und in Sowjetrussland.

Projektleitung:­­­­

Dr. Katharina Kucher, Prof. Dr. Pavel Shcherbinin (Tambov)

Förderung:

2017–2018: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Abstract:

Das Projekt nimmt sich der Institutionen der Fürsorge und ihrer Praktiken im Gouvernement Tambov an. Es handelt sich hier um einen ersten Versuch, die Institutionen der Kinderfürsorge in der Provinz systematisch und vergleichend für die Zeit vor und nach 1917 zu untersuchen. Dabei geht es um Wandel und Kontinuitäten. Eingebettet sind diese Forschungen in die weitere Frage nach den Anfängen von Sozialstaatlichkeit in Russland, d. h. der systematischen öffentlichen und staatlichen Regulierung sozialer Verhältnisse, hier anhand der Fürsorge, Kontrolle und Erziehung problematischer Kinder- und Jugendgruppen. Die Frage nach den Anfängen von Sozialstaatlichkeit gilt für die Zeit vor 1917, mehr noch aber für die Zeit nach 1917, als sich Staat und Partei unter sozialistischen Vorzeichen mit neuen Institutionen und neuen Ansprüchen der Fürsorge, Kontrolle und Erziehung bzw. Resozialisierung von Kindern und Jugendlichen zu stellen hatten.

Die Anfänge der Osteuropa-Forschung an der Universität Tübingen (2016–2017)

Projekttitel:

Die Anfänge der Osteuropa-Forschung an der Universität Tübingen. Die Geschichte des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde während der Amtszeit des Gründungsdirektors Werner Markert (1953–1965)

Projektleitung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa, Dr. Katharina Kucher

Projektbearbeiter: Thorsten Zachary

Förderung:

2016–2017: Rektorat der Universität Tübingen

Abstract:

Ziel des Projektes ist es, die Geschichte des Tübinger Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde von seiner Einrichtung im Jahr 1953 bis zum Tod des Gründungsdirektors Werner Markert 1965 zu erforschen. Diese Geschichte bezieht sich nicht nur auf das Institut selbst, sondern auch auf die bis 1974 existierende Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung (AfO), die der Gründungsdirektor Prof. Dr. Werner Markert bei seiner Berufung als eine gegenwartsbezogene Forschungseinrichtung aus Göttingen nach Tübingen „mitbrachte“ und gleichfalls leitete.

In einem ersten Schritt soll das wissenschaftliche, politische und militärische Wirken des Osteuropahistorikers Werner Markert bis zu seiner Berufung nach Tübingen genau rekonstruiert werden. Dabei gilt es, mehr über seine Aktivitäten seit den 1930er Jahren, seine Haltung zur nationalsozialistischen Ideologie und seine Tätigkeit während des Zweiten Weltkriegs in Erfahrung zu bringen sowie darüber hinaus seine Entnazifizierung und seinen weiteren Werdegang in der Nachkriegszeit eingehender zu beschreiben. Mit den gewonnenen Erkenntnisse sollen dann in einem zweiten Schritt die Forschungsaktivitäten und personelle Konstellationen am Tübinger Institut und der AfO einer genauen Prüfung unterzogen werden, um nachzuvollziehen, in welchem Umfang die Netzwerke, die Markert seit den 1930er Jahren geknüpft hatte, den Aufbau des Tübinger Instituts und damit die Entstehung der Osteuropa-Forschung an der Universität Tübingen prägten.

Das Projekt verfolgt drei Forschungsziele:

  • Es will einen Beitrag zur Universitätsgeschichte leisten, indem die Anfänge der Osteuropaforschung in Tübingen umfassend aufgearbeitet und damit problematische Aspekte Tübinger Universitätsgeschichte bewältigt werden.
  • Das Projekt soll aufschlussreiche Befunde zur Wissenschaftsgeschichte des Kalten Kriegs erbringen und sich damit in größere Forschungskontexte einschreiben. Es soll ggf. auch der Vorbereitung weiterer Drittmittelprojekte zu Aspekten von Wissenschaftsgeschichte im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg dienen.
  • Die Erforschung der Provenienz bestimmter Materialien (Bücher, Karten), die im Besitz des Instituts sind. Falls es sich herausstellt, dass es sich bei diesen um NS-Raubgut handelt, soll eine Restitution vorbereitet werden.

Das Projekt verfolgt Thorsten Zachary im Rahmen seiner Dissertation weiter.

EcoGlobReg: Umweltzeitgeschichte der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten (2014–2017)

Projekttitel:

Umweltzeitgeschichte der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten, 1970–2000. Ökologische Globalisierung und regionale Dynamiken

Histoire environnementale du temps présent : l'Union soviétique et les États successeurs, 1970–2000. Globalisation écologique et dynamiques régionales

Projektleitung:

Dr. Melanie Arndt (IOS Regensburg), Dr. Marc Elie (CNRS-EHESS Paris), Prof. Dr. Klaus Gestwa

Projektbearbeiter: Alexander Ananyev, Raphael Schulte-Kellinghaus

Förderung:

2014–2017: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

2014–2017: Agence nationale de la recherche (ANR)

Abstract:

Das deutsch-französische Projekt zur (post)sowjetischen Umweltzeitgeschichte will inhaltlich und organisatorisch staatliche Grenzen überwinden. Sein inhaltliches Ziel ist es, die bisweilen stürmischen Prozesse der Ökologisierung und Entökologisierung von Politik und Gesellschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu erforschen. Mit sich überkreuzenden global- und regionalhistorischen Perspektiven tragen die Teiluntersuchungen dazu bei, die Wechselseitigkeit zwischen grenzüberschreitenden Interaktionsprozessen, den Gestaltungskräften zentralstaatlicher Politik und den praktischen Aktivitäten in den Regionen eingehender zu analysieren. Damit eröffnet das Projekt innovative, aufschlussreiche Perspektiven auf die East Side Story der globalen Umweltzeitgeschichte.

Die vier deutschen und neun französischen Teiluntersuchungen verfolgen fünf übergeordnete Forschungsziele:

  • Durch die Untersuchung der politischen Ökologie in spät- und postsowjetischen Zeit den gesellschaftlichen Stellenwert und die Reichweite der Umweltpolitik und des Umweltbewusstseins näher zu bestimmen (= Strukturwandel des Ökologischen);
  • Durch die Analyse blockübergreifender Interaktionen und globaler Institutionen die Rolle der Sowjetunion und ihrer Nachfolgestaaten in einer globalen Umweltzeitgeschichte herauszuarbeiten (= ökologische Globalisierung);
  • Durch die Überprüfung der gebräuchlichen Periodisierungen und Charakterisierungen den Zusammenbruch der Sowjetunion und die postkommunistische Transformation aus umwelthistorischer Sicht neu zu konzeptualisieren (= Neukonzeptualisierung spät- und postsowjetischer Geschichte);
  • Durch die Erforschung russischer, sibirischer, zentralasiatischer, kaukasischer und baltischer Grenz- und Binnenräume neue Einblicke in die sich verändernden Machtverhältnisse der Zeit zu gewinnen (= regionale Eigendynamiken des Ökologischen und die Rekonfiguration von Macht und Raum);
  • Durch die Historisierung gegenwärtiger Umweltprobleme und ökologischer Debatten die gesellschaftspolitische Relevanz umweltzeithistorischer Forschungen insbesondere für den postsowjetischen Raum zu unterstreichen (= ökologische Problemgeschichte der Gegenwart).

Die Teiluntersuchungen sind in zwei sich ergänzenden und überkreuzenden Projektbereichen zusammengeführt. Im Fokus des ersten Bereichs stehen global erweiterte Regionalstudien. Der zweite Projektbereich setzt den Schwerpunkt auf regional verortete Globalstudien.

Tübinger Teilprojekte:
Webseite:

https://ecoglobreg.hypotheses.org/

https://www.ios-regensburg.de/forschung/drittmittelprojekte/umweltzeitgeschichte-der-sowjetunion-und-ihrer-nachfolgestaaten-1970-2000.html

Erforschung der Provenienz einer russischsprachigen Originalurkunde (2016)

Projekttitel:

Erforschung der Provenienz einer russischsprachigen Originalurkunde, ausgestellt durch Peter I. im Jahr 1708, die die Ernennung Joasaf Krokovskijs zum Metropoliten von Kiev bestätigt

Projektleitung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa, Dr. Katharina Kucher, Ingrid Schierle

Projektbearbeiter*innen:

Prof. Dr. Dietrich Beyrau, Dr. Corinna Kuhr-Korolev, Dr. Tetiana Sebta, Dr. Nataliia Sinkevich, Thorsten Zachary

Förderung:

2016: Auswärtiges Amt (AA)

Abstract:

Ziel des Projektes ist, die Provenienz einer russischen Originalurkunde Peters I. möglichst lückenlos zu erforschen, die sich seit Ende der 1950er Jahre im Besitz der Universität Tübingen befindet. Dabei handelt es sich um die Urkunde, die die Ernennung von Joasaf Krokovskij zum Metropoliten von Kiev im Jahr 1709 bestätigte. Aufgrund nachgewiesener persönlicher Netzwerke des Gründungsdirektors des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Prof. Dr. Werner Markert, besteht der dringende Verdacht, dass es sich bei der Urkunde um NS-Raubkunst aus dem Umfeld des Sonderkommandos Künsberg – einer Einheit, die dem Auswärtigen Amt unterstand – handelt.

Veröffentlichung:

Katharina Kucher, Corinna Kuhr-Korolev, Tetiana Sebta, Nataliia Sinkevych: Kriegsbeute in Tübingen. Eine Urkunde Peters des Großen, Seilschaften der Osteuropaforscher und die Restitution, in: Osteuropa, 66, 11-12/2016, S. 149–167.

Katharina Kucher / Thorsten Zachary: Feindforschung mit alten Wehrmachtsbeständen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.9.2017, N3.

Zirkulation von Nachrichten und Waren (2013–2015)

Projekttitel:

Zirkulation von Nachrichten und Waren. Zum Transfer moderner urbaner Lebensformen in der deutschsprachigen belletristischen Presse in Böhmen und Ungarn, 1815–1848.

Projektleitung:

Dr. Anna Ananieva, Prof. Dr. Klaus Gestwa, Prof. Dr. Reinhard Johler

Förderung:

2013–2015: Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM)

Abstract:

Das Forschungsprojekt untersucht Prozesse und Formen der Modernisierung durch Unterhaltung, die sich auf der kulturellen Transferachse entwickelten und die Großstädte Leipzig, Wien und St. Petersburg verbanden. Zwei markante Knotenpunkte dieser deutschsprachigen Kommunikationsachse bildeten Pest und Prag. Im Untersuchungszeitraum nahmen beide Städte als kulturelle und literarische Zentren der Deutschen im östlichen Europa eine herausragende Stellung ein. Sie stehen darum im Mittelpunkt des Projekts. Ziel ist es, anhand der Analyse der belletristischen Presse und ihrer Netzwerke die Vermittlung neuer urbaner Lebensentwürfe zu untersuchen und dabei die Reziprozität des Kulturtransfers zwischen ‚West’ und ‚Ost’ anschaulich werden zu lassen.

Das Forschungsvorhaben setzt die schon etablierte und produktive Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Empirische Kulturwissenschaft und dem Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen fort. Die Projektarbeit verdichtet die in Tübingen begonnene und im Zentrum für die Erforschung deutscher Geschichte und Kultur in Südosteuropa gebündelte Forschung.

Außerhalb der Universität baut die Projektgruppe einen interdisziplinären Austausch mit dem Tübinger Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde und dem Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas e. V. (IKGS) in München aus.

Webseite:

https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/70711

Geteilte Klangwelten (2013–2015)

Projekttitel:

Geteilte Klangwelten. Die Komponistengruppe der "Moskauer Trojka" zwischen transnationalem Erfolg und kulturpolitischem Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhundert

Projektleitung:

Prof. Dr. Klaus Gestwa

Assoziiert: Prof. Dr. Dorothea Redepenning (Heidelberg)

Projektbearbeiter: Boris Belge

Förderung:

2013–2015: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)

Abstract:

Als selbsternannte zweite sowjetische Avantgarde gehören Alfred Schnittke (1934-1998), Edison Denisov (1929-1996) und Sofia Gubaidulina (*1931) zu den schillerndsten Figuren in der internationalen Musikgeschichte des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts. Die Untersuchung der mit dem Westen geteilten Klangwelt dieser „Moskauer Trojka“ und der damit verbundenen kulturpolitischen Kontroversen vermittelt vielfältige Einblicke in die sowjetische Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre. So soll eine transnational erweiterte Politik- und Gesellschaftsgeschichte der sowjetischen Musikkultur im Kalten Krieg geschrieben werden. Das Projekt ist eng verbunden mit den vom Antragsteller am Tübinger Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde organisierten Verflechtungsstudien „across the blocs. Blockübergreifende Begegnungen und Resonanzen im Kalten Krieg“. Es will deren bisherigen thematischen Rahmen über Wissenschaft, Technik und Umwelt hinaus in den Bereich der Kultur erweitern, damit einen eigenen Akzent setzen und weitere Vorhaben anregen. Neben den verflechtungshistorischen Fragestellungen wird das Projekt neue Einblicke in das Gesellschaftssystem der späten Sowjetunion eröffnen.

Der internationale Erfolg der Moskauer Trojka warf für das sowjetische Musik- und Kulturleben eine brennende Frage auf: Wie sollten im bestehenden institutionellen Gefüge die politischen Vorgaben des Parteistaats mit den wachsenden Ansprüchen der Komponisten nach kreativer Entfaltung in Einklang gebracht werden? Das Projekt thematisiert diese spannungsreiche Wechselseitigkeit von transnationaler Interaktion und kulturpolitischem Wandel. Es hinterfragt die für die Brežnev-Zeit gebräuchlichen Leitbegriffe wie „Stagnation“ und „Stabilität“. Ziel ist es, Dynamiken in der Zeit nachzuspüren, mit denen sich die Widersprüche sowie die Verflechtungen analytisch besser fassen lassen. Während der Perestrojka-Jahre und in postkommunistischer Zeit gelangte die „Moskauer Trojka“ zu immer größerem Ruhm. Einige ihrer Vertreter, Gefolgsleute und Schüler siedelten in den Westen über. Dieser kulturelle Aderlass löste in Moskau und Petersburg Ängste vor einem Ende der russischen Musik aus.

Das Projekt historisiert diese zeitgenössische Wahrnehmung. Mit seiner über Grenzen und Zäsuren hinausgehenden Perspektive erörtert es zudem die noch wenig erforschten Erfahrungen und Folgen der Emigration für die postsowjetische Musikkultur. Das Projekt wählt einen multiperspektivischen Ansatz, um der Komplexität sowjetischavantgardistischer Musikkultur gerecht zu werden. Der biographische Zugang wird durch eine musikwissenschaftlich-historische Annäherung an das Schaffen und Wirken der Komponistengruppe erweitert. Das Projekt ist ein historisches Vorhaben, das zugleich interdisziplinär angelegt ist und einen Beitrag zur Musikgeschichte liefern will. Aus spätsowjetischer Perspektive eröffnen sich schließlich aufschlussreiche Einblicke in das vielschichtige Verhältnis von Musik und Moderne.