Die Sammlung, Analyse und Interpretation attischer Grabreliefs kann auf eine mehr als hundertjährige Forschungsgeschichte zurückblicken. Für die archaische Zeit bleibt G. M. A. Richters Zusammenstellung das Standardwerk, obwohl sich unsere Kenntnis der Epoche deutlich vergrößert hat. Die Grabstelen mit figürlicher Darstellung aus dem übrigen griechischen Raum werden meist aus einem ›attischen Blickwinkel‹, als bloße Rezipienten des Vorbilds Athen erklärt. Einer tiefer reichenden Beurteilung der Beziehungen in archaischer Zeit fehlt nämlich bisher die Grundlage einer unvoreingenommenen Materialsammlung und darauf aufbauenden Analyse der einzelnen Reliefs und ihrer Gemeinsamkeiten.
Aus solch einer Gesamtschau geht hervor, dass die Tradition der Darstellung des Toten auf seinem Grabstein nicht in Athen, sondern auf Kreta und den Kykladen am weitesten zurückreicht und – wenn überhaupt – durch andere, nichtgriechische Einflüsse angeregt wurde. Auch für die übrigen Gebiete ergibt sich ein komplexeres Bild von Impulsen und Reaktionen als bisher angenommen. Dadurch stellt sich die Frage nach dem Ursprung der einzelnen Traditionsstränge neu, und zwar auch für Attika. Nur auf dieser Basis kann jedoch die Rolle Athens innerhalb der archaischen Grabkunst differenziert beurteilt werden. Eine uneingeschränkte Sichtweise auf die griechische Welt und über ihre Grenzen hinaus lässt die Mobilität von Ideen und Bildern zutage treten. Sie bereichert zudem die Kenntnis gesellschaftlicher Werte in archaischer Zeit, welche die Motive der Grabreliefs bestimmten.