Exzess ohne Boden – Balance und Ambiguität in Ovids Tristien
Das Projekt setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle Ambiguität in der Exilliteratur Ovids spielt. Dabei soll gezeigt werden, dass eine strategische Verunklarung der Umstände und Erlebnisse im Exil ein poetisches Mittel ist, das eine verlorene Balance des Dichters auf der Ebene des textlichen Diskurses realisiert. Ausgangspunkt der Arbeit sind zwei Beobachtungen zu Ovids Exilliteratur, die bislang zwar getrennt voneinander beschrieben, bislang aber noch nicht dezidiert miteinander in Verbindung gebracht worden sind.
(1) In seinen Tristien, einer ersten Sammlung elegischer Exilgedichte, die gemeinhin den Beginn dieser Gattung in der abendländischen Literaturgeschichte markieren, schildert der römische Dichter Ovid die Erfahrungen seiner Verbannung (8 n. Chr.), seine Reise nach und seine Erlebnisse in seinem zugewiesenen Exilort Tomis an der Küste des Schwarzen Meeres. Dabei schildert er eine Welt, in der nicht nur Jahreszeiten und Klima, sondern auch seine körperliche und seelische Verfassung aus dem Gleichgewicht geraten. Mit metaphorischen und poetologischen Bildern des Gleichgewichts (z.B. Ikarus als Reflexionsfigur) stellt der Dichter seinen Sturz als radikalen Verlust des Gleichgewichtes dar, in dem Leben und Dichtung in eine Krise gestürzt sind, die einer Neuorientierung und eines neuen stabilen Standes bedürfen. Diese Thematik ist von der bisherigen Forschung zwar beschrieben, dabei aber lange Zeit als einseitige Selbst-herabsetzung des Dichters nach der Verbannung empfunden worden.
(2) Die Exilgedichte sind geprägt von einem hohen Maß an Unbestimmtheit, Vagheit und Ambiguität. Dies zeigt sich in verschiedenen Bereichen: Bis heute sind etwa die Gründe für die Verbannung auf persönlichen Erlass des Augustus unbekannt und ein Rätsel, das die Forschung lange beschäftigt hat. Grund dafür sind nicht nur der Mangel an historischen Quellen (außer Ovid selbst schrieb keiner seiner Zeitgenossen darüber), sondern auch eine Strategie des Textes, der immer wieder um dieselbe informationelle Leerstelle kreist, den Verbannungsgrund metaphorisch umschreibt und ihn dadurch erwähnt und doch nicht erwähnt. Andererseits entstehen die Gedichte in einem politischen Kontext, in dem der öffentliche Diskurs immer mehr beschnitten wird und letztlich auch, wie im Falle Ovids, in direkten Konflikt mit diesem sich neu konsolidierenden Machtsystem von Augustus geraten können. Die Tristien stellen den vordergründigen Versuch dar, sich mit dem Kaiser zu versöhnen, sind jedoch bei genauerem Hinsehen von doppelten Lesarten, kritischen Untertönen und spitzen Pointen durchzogen, die einer hermeneutischen Festlegung in der Interpretation entgegenstehen. Zuletzt ist auch die in den Texten sprechende Dichterstimme fluide und als Vexierbild aus einander widerstreitenden literarischen ‚Masken‘ (personae) zu betrachten, die sich den Lesenden auf verschiedene Weise annähern und die Grenzen des autobiographischen (oder: autofiktionalen) Sprechens vor dem Hintergrund eines ‚intentionalen Trugschlusses‘ weit ausloten.
Die Arbeit unternimmt den Versuch, diese beiden charakteristischen Merkmale von Ovids Dichtung zu verbinden und die Ambiguität (2) als poetische Strategie zu interpretieren, die das verlorene Gleichgewicht des Dichters im Exil (1) auf der Ebene des Textes realisiert. Indem dem Text wichtige informationelle Fundamente entzogen werden, so der Ansatzpunkt, geraten die Gedichte gewissermaßen selbst ‚aus dem Gleichgewicht‘ und machen den Sturz des Dichters rezeptionsästhetisch erfahrbar.