Universitätsbibliothek

Ein Geschenk aus Uppsala

Mit der schwedischen Stadt Uppsala verbindet Tübingen, dass beide Universitäten im Jahr 1477 gegründet wurden. Zum größten Schatz der Universitätsbibliothek Uppsala gehört eine besondere Handschrift, die Anfang des 6. Jahrhunderts in Norditalien, vermutlich in Ravenna, entstanden ist. Das Besondere am „Codex Argenteus“ ist, dass es sich dabei um eines der ältesten und umfangreichsten Schriftzeugnisse in gotischer Sprache handelt. Wulfila, der im 4. Jahrhundert Bischof der Goten war, übersetzte die Bibel erstmals aus dem Griechischen in die gotische Sprache. Er war aber nicht nur Übersetzer, sondern auch der Erfinder des gotischen Alphabets. Der „Codex Argenteus“, die sogenannte Silberbibel, ist eine Abschrift der Wulfila-Bibel und besteht aus Teilen der vier Evangelien.

Im Januar 1928 kam ein großes Geschenkpaket aus Uppsala in der Universitätsbibliothek Tübingen an. Darin befand sich „ein Exemplar der phototypischen Ausgabe“ des Codex Argenteus, die als Jubiläumsausgabe für das 450-jährige Bestehen der Universität Uppsala herausgegeben worden war. Wo heute digitale Reproduktionen etwas Selbstverständliches sind, so war es vor fast 100 Jahren noch ein technisches Wunderwerk, verloren geglaubte und fast unsichtbare Textstellen in Handschriften mit Hilfe von fotografischen Techniken sichtbar zu machen. Erste fotografische Experimente an einigen Blättern des Codex Argenteus begannen im Jahr 1917. Zur Anwendung kam eine Fluoreszenztechnik und ultraviolette Strahlung sowie Anfertigungen mittels Röntgenstrahlen und Schräglicht. Die fotografischen Arbeiten fanden in einer eigens dafür eingerichteten Werkstatt im Keller der Universitätsbibliothek Uppsala statt. Die Arbeiten mit Röntgenstrahlen wurden im Universitätskrankenhaus Uppsala durchgeführt. Zehn Jahre später wurde das erste Exemplar gedruckt.

Ihren Namen hat die Silberbibel nicht von ihrem mit Silberplatten verzierten Prachteinband, der aus dem 17. Jahrhundert stammt, sondern von den mit Silber- und Goldtinte beschriebenen Pergamentblättern. Die dünnen Blätter des Originals wurden mit Pflanzenfarbe purpurrot eingefärbt. Von den ursprünglich 336 Pergamentblättern sind noch 188 Blätter erhalten, wovon 187 in Uppsala aufbewahrt werden. 1970 kam es zu einem sensationellen Fund im Dom zu Speyer. Bei Renovierungsarbeiten wurde unter Bodenplatten ein Pergamentblatt entdeckt. Nach einer genauen Untersuchung stellte sich heraus, dass dieses Blatt exakt an der Stelle ansetzt, an der das letzte Blatt der Silberbibel in Uppsala aufhört. Auch die Wurmlöcher stimmen eindeutig überein. 

Die spannende Reise der Originalhandschrift soll im 9. Jahrhundert von Montecassino in die vom heiligen Liudger gegründete Benediktinerabtei nach Werden (heute Essen-Werden) geführt haben. Im 16. Jahrhundert gelangte sie in den Besitz Kaiser Rudolfs II. und dadurch in die Prager Burg. Dort wurde der Codex im Jahr 1648 zur Kriegsbeute der schwedischen Truppen, die ihn nach Stockholm zu Königin Kristina brachten. Als Kristina im Jahr 1654 abdankte, überließ sie die Handschrift ihrem niederländischen Bibliothekar als Bezahlung. Am Ende der Reise erwarb der schwedische Reichskanzler und zugleich Kanzler der Universität Uppsala, Magnus Gabriel de la Gardie, den Codex und schenkte ihn 1669 der Universitätsbibliothek Uppsala. Er ließ zudem den Silbereinband anfertigen.

Was niemand für möglich gehalten hatte, geschah am 5. April 1995 in der Ausstellungshalle der Bibliothek in Uppsala. Zwei Männer betraten die Halle und schlugen die Scheibe der Ausstellungsvitrine mit einem großen Hammer ein, räumten die Vitrine leer und flüchteten unerkannt. Die Beute bestand aus einem Original-Doppelblatt des Codex Argenteus, dem Silbereinband sowie einem Dummy-Buchblock, von dem die Räuber vermutlich sehr enttäuscht waren. Genau einen Monat später erreichte die Universität ein anonymer Anruf, der zu einem Schließfach im Bahnhof nach Stockholm führte. Darin befand sich das unversehrte Diebesgut. Das Original kann aus Sicherheitsgründen heute nicht mehr bestaunt werden. In der Vitrine der schönen neuen Ausstellungshalle in der Universitätsbibliothek Uppsala wird ein neuzeitlicher Nachdruck ausgestellt. Sicherheitspersonal ist ständig anwesend.

„Atta unsar“, das Vater unser, auf gotisch vorgelesen von Sven Sandblom.
Quelle: Homepage der UB Uppsala im November 2024.

Quellen / Literatur

Codex argenteus Upsaliensis / jussu Senatus Universitatis phototypice editus. 
Uppsaliae: Almquist & Wiksell, [1927]. UB-Signatur: Ga XLIII 2.2

Codex argenteus / Silverbibeln (Digitalisat der UB Uppsala):
http://urn.kb.se/resolve?urn=urn:nbn:se:alvin:portal:record-60279

Fotografisk undersökning av Codex Argenteus / av Theodor Svedberg och Ivar Nordlund. 
Uppsala: Edv. Berlings boktryckerei a.-b., 1918. UB-Signatur: Ka LX 2-1918,1.

Geschenk der Faksimileausgabe des Codex Argenteus Upsaliensis durch die UB Uppsala. 
Akte des Universitätsarchivs Tübingen: UAT 167/203, Blatt 5-6 (Briefwechsel vom Januar 1928).

Glossarium Ulphila-gothicum, linguis affinibus, per Fr. Junium, nunc etiam sveo-gothica auctum & illustratum per Georgium Stiernhielm. Stockholm: typis Nicolai Wankif, 1670/1671. (File 383 im Digitalisat der UB Uppsala): http://urn.kb.se/resolve?urn=urn:nbn:se:alvin:portal:record-166687

The Silver Bible: origins and history of the Codex argenteus / Lars Munkhammar. 
[Uppsala]: Selenas, [2011]. UB-Signatur: 56 A 585.

Das Speyer-Fragment des Codex Argenteus, Bibel des Ulfilas / hrsg. vom Domkapitel Speyer. Bearbeitet von Bruno Thiebes. Speyer, 1978. UB-Signatur: 2 E 9902.

„Ulfila-Blatt“ aus Speyer:
https://www.bistum-speyer.de/news/nachrichtenansicht/?no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=15753