Der Notfall begründet einen radikalen Wandel der Sicherheitsgewährleistung. Notfallgesetze und -verordnungen treten in Kraft und sind von Polizei und teils auch kommunalen Ordnungsdiensten durchzusetzen. Da er teils erhebliche Eingriffe in Grundrechte begründet, ist die Ausrufung des Notfalls ebenso legitimationsbedürftig wie die Ausübung der Notmaßnahmen selbst. Ihre Akzeptanz speist sich aus der staatlichen Schutzpflicht wie aus der prinzipiellen Anerkennung der Autorität des Staates und seiner Organe; umgekehrt aber kann ein Versagen des Notfallmanagements deren Legitimität in Frage stellen, eine Verweigerung der Akzeptanz einzelner Maßnahmen zu einer generellen Legitimationskrise führen. Insofern sind der Notfall und Notfallmaßnahmen der Stresstest von Legitimations- und Akzeptanzbedürfnissen.
Dies gilt insbesondere bei Notfällen von erheblicher Schwere und starker Dynamik, von bundesweiter Tragweite, von längerer Dauer und mehr noch, wenn nur geringe Erfahrungswerte mit einer Notfalllage vorliegen, wenn es gewissermaßen an einem „Drehbuch“ fehlt. In solchen Fällen sind Betroffenheit und Verletzlichkeit lokal, regional und sozial sehr unterschiedlich verteilt, nicht nur Primärschäden, sondern auch maßnahmenbedingte Sekundärschäden stellen sich ein, nach einer Akutphase stellt sich die Frage, wann und wie man aus der Notfalllage herauskommt, dies insbesondere dann, wenn bei neuartigen Großschäden die Lageentwicklung mit erheblichen Ungewissheiten verbunden ist. Eine selbstlegitimierende Kraft durch die Evidenz des Notfalls schwindet schnell, die scheinbare Alternativlosigkeit von Entscheidungen wird von ihrem politischen Charakter überlagert, die Priorisierung und Distribution behördlicher Hilfe wird ebenso rechtfertigungspflichtig wie die Einschränkungen des sozialen Lebens. Entsprechend entfalten sich in einer Demokratie Meinungspluralität und Streit, selbst die zugrunde liegenden Expertisen für behördliche Maßnahmen können in Zweifel geraten und öffentliche (Zu)Stimmungen gänzlich kippen.
Diese Wandlung in den wechselseitigen Bedingungen von Akzeptanzbedarf und Legitimationsanforderungen in einem ausgedehnten Notfallgeschehen ist bisher weder in seiner Logik noch in seiner Dynamik und in seinen Dimensionen hinreichend erfasst. Ziel des Projekts ist, erstens eine systematische Analyse dazu vorzulegen und zweitens auf dieser Basis Orientierungswissen für Behörden und Organisationen im Sicherheitsbereich zur (lokalen) Ausgestaltung von Maßnahmen und zur Risikokommunikation in Notfällen zu gewinnen. Im Wesentlichen bietet die gegenwärtige Pandemie die empirische Basis der Forschung, die Zielsetzungen stellen dennoch allgemeiner auf weitreichende Notfälle ab.
Die Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Prof. Dr. Rita Haverkamp, untersucht mit einer Vignettenbefragung und qualitativen Interviews die Kooperationsbereitschaft der Bevölkerung, die über das Verhältnis und Handeln von Polizei bzw. kommunalen Ordnungsdiensten in Notfalllagen erschlossen wird. Zudem werden die kommunale Umsetzung von Notfallverordnungen sowie die lokal operierenden Akteure des Katastrophen- und Bevölkerungsschutzes in den Fokus genommen.
Das auf drei Jahre angelegte Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Programms Forschung für die zivile Sicherheit zur Bekanntmachung „Zivile Sicherheit – Gesellschaften im Wandel“ gefördert. Es wird koordiniert von Prof. Dr. Rita Haverkamp von der Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement (Uni Tübingen).
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