Die Rede des Jahres 2012
Marcel Reich-Ranicki: Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus
Marcel Reich-Ranicki hat am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, im Deutschen Bundestag die Rede des Jahres 2012 gehalten. Mit der Schilderung einer persönlichen wie welthistorischen Schlüsselszene aus dem Warschauer Ghetto entfaltet er auf eindringliche und äußerst ungewöhnliche Weise die Macht des gesprochenen Wortes. Reich-Ranicki verweigert sich der konventionellen Gedenkrhetorik und verzichtet auf Appelle, Mahnungen oder Forderungen. Stattdessen rückt er das Prinzip der Evidenz, namentlich die Vergegenwärtigung eines entscheidenden Moments in der Vernichtungsgeschichte der Juden, in den Vordergrund.
Nicht mehr als zwei einleitende Sätze braucht Reich-Ranicki, um sein Anliegen anzukündigen: Ich soll heute hier die Rede halten zum jährlichen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Doch nicht als Historiker spreche ich, sondern als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Ghettos. Damit verweist der zum Zeitpunkt der Rede 91-Jährige auf sein Ethos als Augenzeuge und Holocaust-Überlebender, das seinem Bericht eine hohe Authentizität und emotionale Kraft verleiht. Dann begibt er sich mitten hinein in die Schilderung einer Szene, die in der Deportation der Juden aus Warschau kulminiert. Diese, so Reich-Ranicki in seinem so schlichten wie bedrückenden Schlusssatz, hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.
Aus der narrativen Verdichtung der Rede entspringt ihre höchst überzeugende Wirkung: Die detailgetreue, von subjektiven Wahrnehmungen und atmosphärischen Eindrücken durchzogene Erinnerung führt den Zuhörern die Grausamkeit der Judenvernichtung direkt vor Augen. Reich-Ranicki gelingt eine kunstvolle und ergreifende, aber an keiner Stelle pathetische Erzählung, die sich mit großer Sensibilität gerade auch der Widersprüchlichkeiten der Ereignisse annimmt: Zum Umsiedlungs- Beschluss etwa ertönen Strauß-Walzer an einem warmen und sonnigen Sommertag; die Eheschließung mit Reich-Ranickis Frau Teofila findet in äußerster Eile und unter unmittelbarer Todesangst statt. Auf diese Weise ermöglicht Reich-Ranicki seinen Zuhörern ein Nach-Erleben und Nach-Empfinden, das nur ein Zeitzeuge hervorrufen kann..
Die Rede, teils mit brüchiger, teils aber auch mit gewohnt kräftiger Stimme und dezidierter Gestik vorgetragen, ist ein beeindruckender, kraftvoller und authentischer Beitrag zum Gedenken an den Holocaust in Deutschland. Dies ist gerade in einer Zeit von eminenter Bedeutung, in der es nur noch wenige Überlebende des Völkermords an den Juden gibt und in der unser Land gleichzeitig unter dem Eindruck rechtsextremen Terrors steht.
Jury: Jasmina Gherairi, Dr. Gregor Kalivoda, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Thomas Susanka, Prof. Dr. Dietmar Till, Lisa Überall, Dr. Anne Ulrich, Peter Weit, Dr. Thomas Zinsmaier
Sprecherin der Jury: Dr. Anne Ulrich
Text der Rede Video der Rede
(Die Rede Reich-Ranickis beginnt etwa bei Minute 20:30 und endet bei Minute 52:00.)
Stellungnahmen in der Presse
Prof. Dr. Dietmar Till im SWR