Margot Käßmann hat die Rede des Jahres 2010 gehalten. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zeichnet ihre Predigt im Neujahrsgottesdienst in der Frauenkirche Dresden aus. In bemerkenswert unkonventioneller Weise ist es der damaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland gelungen, im Gewand der Predigt eine unbequeme politische Rede zu halten, die bundesweit Wellen geschlagen hat.
Käßmann macht die Jahreslosung Euer Herz erschrecke nicht zum Ausgangspunkt einer ungewöhnlich realistischen, erfrischend lebensnahen und undoktrinären Neujahrspredigt, die den Blick auf einen Kristallisationspunkt menschlicher Existenz lenkt: das tiefe Erschrecken angesichts bedrohlicher Lebensumstände und existenzieller Ängste. Dabei versteht sie es, ihren Zuhörern mit klarem Blick auf deren vielfältige Lebenslagen Mut zuzusprechen. Ihre Botschaft: Nichts ist gut in der Welt, aber der Mensch muss trotzdem nicht erschrecken. In diesem Spannungsfeld zwischen Illusionslosigkeit und der Forderung nach unbeirrbarer Zuversicht entwickelt sie ihre Rede. Von der Klimapolitik über den Spitzensport und die Kinderarmut bis hin zum Afghanistan-Krieg greift Käßmann treffsicher Themen von gesellschaftspolitischer Brisanz auf.
Zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg in Afghanistan offiziell nicht als Krieg bezeichnet wurde und Infragestellungen des Kriegseinsatzes äußerst umstritten waren, hatte Käßmann den Mut, Friedensüberlegungen anzumahnen und politische Lösungen zu fordern. Ihr viel zitierter Satz Nichts ist gut in Afghanistan hat in der Politik massive Kritik ausgelöst, letztlich aber entscheidend dazu beigetragen, eine weitreichende Debatte über den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr anzustoßen, die inzwischen auch zu politischen Konsequenzen geführt hat. Es ist Margot Käßmanns Verdienst, dass sie diese Gelegenheit in ihrer Neujahrspredigt nicht verstreichen ließ, sondern wahrhaft unerschrocken beim Schopfe ergriff und damit den friedensethischen Grundsätzen der Kirche im besten rhetorischen Sinne zu gesellschaftlicher Geltung verhalf.
Die Rede zeichnet sich durch einen klaren und verständlichen Stil aus, besticht durch eine anschauliche Sprache mit für jedermann anschlussfähigen und dennoch persönlichen Beispielen und einen so deutlichen wie versöhnlichen Ton. Damit entspricht sie allen rhetorischen Anforderungen zur Elaborierung einer Rede, wurde bei einem herausragenden und dann als spektakulär wahrgenommenen Ereignismoment gehalten und zeigte enorme Wirkung.
Jury: Jasmina Gherairi, Prof. Dr. Joachim Knape, Dr. Olaf Kramer, Michael Pelzer, Lisa Überall, Anne Ulrich, Peter Weit
Sprecherin der Jury: Anne Ulrich
Text der Rede