Die Rede des Jahres 2002
Das Kanzlerduell
Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen hat den TV-Duellen zwischen Gerhard Schröder und Edmund Stoiber die Auszeichnung Rede des Jahres 2002 verliehen. Somit geht die Auszeichnung diesmal nicht an eine Rede und einen Redner, sondern an eine Debatte. Mit dieser Entscheidung trägt das Seminar der Ausnahmestellung der Kanzlerduelle Rechnung, die jeweils mehr als 15 Millionen Zuschauer in ihren Bann zogen und wie nie zuvor in der bundesdeutschen Geschichte ein rhetorisches Ereignis in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt haben.
Die beiden Redner entfalteten in den Debatten ein großes Repertoire rhetorischer Fähigkeiten, agierten mal sachlich-argumentativ, mal pathetisch-emotional, mal schlagfertig-scherzhaft. Waren die Regeln beim ersten Aufeinandertreffen noch starr und das Gespräch nur wenig lebendig, gelang in der zweiten Debatte immer wieder auch ein wirklicher Gedankenaustausch, man verweilte bei einer Sache, um sie kontrovers zu klären, argumentierte detailgenau und kenntnisreich. Doch blieb das Gespräch dabei keineswegs in Kleinigkeiten stecken, auch die programmatischen Leitlinien der Politik waren Thema. Kanzler und Kandidat erläuterten jeweils ihr Deutschlandprojekt, konfrontierten ihre unterschiedlichen Modelle von Wirtschafts-, Außen- und Sozialpolitik. Dabei wurde die Beziehung von politischem Plan und Wirklichkeit deutlich, denn die Redner beschrieben auch die ganz konkreten Folgen ihrer politischen Agenda, sprachen anschaulich und verständlich.
Ohne Zweifel flüchteten sich die Kontrahenten immer wieder in Phrasen und allgemeine Proklamationen, doch gelang es, dann abermals zum sachlichen und engagierten Dialog, zum Gespräch zurückzukehren. Die TV-Debatten waren dabei als rhetorisches Ereignis mehr als eine bloß mediale Inszenierung, denn Politik selbst ist nichts anderes als sprachliches Handeln. Politische Probleme sind auch außerhalb des Fernsehstudios nur im sprachlichen Miteinander und Gegeneinander zu klären, und eben dieses Mit- und Gegeneinander ließ sich in den Gesprächen trefflich beobachten. Politik ist Sprache: das Diktum Hannah Arendts hat noch immer Gültigkeit, und die Debatten trugen genau diesem Zusammenhang Rechnung, so daß bei aller Kritik an manchen offenkundig auswendig gelernten Passagen, an Phrasen, körpersprachlichen Ungeschicklichkeiten und argumentativen Leerläufen die grundsätzliche Bedeutung der Fernsehbegegnung Schröder-Stoiber ganz unbestreitbar ist. Die Fernsehdebatten ermöglichen die mediale Umsetzung politischer Wirklichkeit, sie können ein Exempel moderner politischer Beredsamkeit sein, das die Wirkungsmacht der Rhetorik und die enge Zusammengehörigkeit von öffentlicher Rede und Demokratie eindrücklich beweist.
Jury: Prof. Dr. Joachim Knape, Boris Kositzke, Olaf Kramer, Prof. Dr. Gert Ueding und Peter Weit.
Sprecher der Jury: Olaf Kramer, Boris Kositzke