Kath. Institut für berufsorientierte Religionspädagogik

Religiöse und interreligiöse Kompetenzentwicklung in der frühen Bildung

In einer von Pluralität geprägten "Kindergesellschaft" spiegeln sich Herausforderungen und Chancen einer pluralen Gesellschaft wider - die Entwicklung religiöser und interreligiöser Kompetenz beginnt an den Wurzeln der Gesellschaft, in Kindertageseinrichtungen und Schulen.

Kinder erfahren religiöse Vielfalt im Austausch über unterschiedliche Vorstellungen und Überzeugungen, im Gespräch über Wertorientierungen und existentielle Erfahrungen sowie im Kennenlernen verschiedener kultureller und religiöser Traditionen. So sprechen beispielsweise muslimische Kinder manchmal von einem "türkischen Gott", jüdische Kinder haben Fragen zum Weihnachtsfest und christliche Kinder berichten über die Fastenzeit im Christentum und eben auch im Islam.[1] Viele Kinder kennen religiöse Gebäude, Traditionen und natürlich Feste - andere Überzeugungen und Religionen werden dabei aktiv wahrgenommen und sorgen für intensive Gespräche in der Kitagruppe. In der vorliegenden Untersuchung sprechen Kinder in diesem Zusammenhang über existentielle Gefühle wie Freude und Trauer, sie reflektieren den gemeinsamen Umgang miteinander, diskutieren konkrete Wertvorstellungen und tun dies häufig in einem religiösen Kontext. Einige Fragen stellen sich Kinder in den untersuchten Gruppen immer wieder aufs Neue: "Wie sieht Gott eigentlich aus?", "Haben verschiedene Menschen unterschiedliche Götter?", "Was passiert nach dem Tod", "Warum bin ich manchmal fröhlich und manchmal traurig?", "Was ist gerecht und was ungerecht?". Die Tatsache, dass Kinder und Eltern unterschiedlicher Kulturen und Religionen gemeinsam in der Lebens- und Bildungswelt Kindertagesstätte zusammenfinden und ihre verschiedenen Vorstellungen sowie Fragen im gemeinsamen Dialog besprechen, ist dabei Herausforderung und Chance zugleich.

Projektskizze

Vor diesem Hintergrund untersucht das Projekt religiöse und interreligiöse Kompetenzentwicklung in der frühen Bildung und verfolgt dabei zwei grundlegende Ziele:

  1. Durch eine qualitative empirische Untersuchung wird religiöse und interreligiöse Kompetenzentwicklung in der frühkindlichen Identitätsentwicklung an den Parametern Wertorientierung und existentielle Erfahrungen untersucht. Die Ergebnisse aus Einzel- und Gruppeninterviews mit Kindern, Eltern und dem pädagogischen Fachpersonal werden in einem dreigliedrigen Auswertungsprozess (a) thematisch kategorisiert, (b) nach Kompetenzniveaus geordnet und (c) mit Hilfe eine Kompetenzreflektors interpretiert.
  2. Auf der Basis der empirischen Untersuchung und einer Analyse bestehender Konzeptionen wird eine religionspädagogische Konzeption entwickelt, die Kompetenzen und Kompetenzentwicklungspotentiale von Kindern fokussiert und Leitlinien für eine kompetenzorientierte Arbeit für das pädagogische Fachpersonal formuliert.

Auf dieser Basis soll die Förderung religiöser und interreligiöser Kompetenzentwicklung in Kindertageseinrichtungen durch empirisch gesicherte Ergebnisse erschließbar und durch konkrete methodisch - didaktische Umsetzungsmöglichkeiten für die Praxis zugänglich werden. Analytische und empirische Forschung in der frühkindlichen Pädagogik erweitern den pädagogischen Diskurs und fördern - durch ausgewiesenen Praxisbezug - die Professionalisierung des pädagogischen Fachpersonals.

Besondere Herausforderungen des Projekts

Eine Strukturierung und Konzeptualisierung (inter-)religiöser Kompetenz und deren Entwicklung fehlt im Bereich der Frühpädagogik bisher weitestgehend. In Anlehnung an die Klieme-Expertise definiert das vorliegende Forschungsprojekt Kompetenzen primär als Fähigkeiten und Fertigkeiten, die zur Problemlösung in der Interaktion eingesetzt werden. Der dialogische Konstruktions- und Lernprozess zwischen Kindern verschiedener und gleicher Religionen, der sich am besten in der Begegnungs- und Lernwelt Kindertageseinrichtung realisieren lässt, stellt dabei den zentralen Forschungszugang dar - zu diesem Zweck werden Begegnungen und Gespräche in Kleingruppen arrangiert. Gemeinsam mit den bundesweit 200 beteiligten Kindern werden Erzählungen zu den Themen "Werte" und "existentielle Erfahrungen" in einem religiösen Kontext besprochen. Dieser Forschungszugang ist sicherlich als eine ganz besondere Herausforderung zu betrachten: Kinder zwischen 3 und 6 Jahren können in Kleingruppengesprächen sehr intensiv und differenziert argumentieren, sie reflektieren ihre eigene und auch andere Positionen und erarbeiten teilweise gemeinsame Lösungen. Gleichzeitig geben sie den Forschern durch ihre persönlichen Erfahrungs- und Vorstellungswelten, ihre Kreativität und ihre Assoziationen regelmäßig Rätsel auf. Aufgabe der Forschung ist es deshalb, einen Perspektivenwechsel anzustreben und sich auf kindliche Sichtweisen einzulassen. Soziologische, psychologische und pädagogische Perspektiven stehen in diesem Prozess neben theologischen Überlegungen, um in einem interdisziplinären Zirkel, das Kind als selbstständiges Subjekt anerkennen zu können.

Erste Ergebnisse der Studie

Im Kennenlernen anderer Überzeugungen haben Kinder die Möglichkeit, eigene Positionen zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Dieses Grundprinzip religiösen und interreligiösen Lernens kann in Kindertageseinrichtungen ganz bewusst initiiert werden, indem Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Überzeugungen und Religionen gezielt besprochen werden. In den Untersuchungen diskutieren viele Kindergruppen dabei über das Wesen und das Aussehen Gottes. Fragen nach Gottes Allmacht, seinem Eingreifen in das Weltgeschehen, Gottes Rolle im Leben jedes Einzelnen und seine Rolle in Hinblick auf ein Leben nach dem Tod sind Themen für die befragten Kinder. Ebenso wird diskutiert, ob Gott denn nun alleine ist oder Kinder hat, ob er es regnen lässt oder nur eine Fernsteuerung für die Sonne besitzt und wie er überall gleichzeitig sein kann. Gruppen mit Kindern verschiedener Überzeugungen und Religionen erweisen sich in den Untersuchungen als besonders konstruktiv: Die Namen Jahwe, Allah und Gott werden von den Kindern besprochen, Gott wird mit kulturellen und nationalen Phänomenen assoziiert, unterschiedliche Feste werden diskutiert und grundsätzliche Wertvorstellungen reflektiert. In diesen Prozessen greifen Kinder auf unterschiedliche Kompetenzen zurück, besonders intensive Diskussionen zeigen entsprechende Entwicklungspotentiale auf: Die gemeinsame Reflexion und Feier religiöser Feste, der Besuch religiöser Orte, die Diskussion individueller Wertvorstellungen und die Thematisierung existentieller Erfahrungen zeigen sich in den Untersuchungen als besonders produktive Zugänge für die Förderung religiöser und interreligiöser Kompetenz.

Ausblick

Kinder konstruieren religiöse und interreligiöse Vorstellungswelten durch ihre einzigartige Kreativität, die Reflexion ihrer persönlichen Erfahrungen und die Diskussion ihrer Umwelt. Kinder nehmen Religion und religiöse Vielfalt bewusst wahr, sie denken über Werte nach und sie reflektieren Gefühle sowie Erfahrungen existentieller Art. In diesen Prozessen entwickeln Kinder religiöse und interreligiöse Kompetenz - ganz individuell und im Gespräch mit anderen Kindern und Bezugspersonen. Kindertageseinrichtungen haben als religiös plurale Lebens- und Lernwelten die Aufgabe, diese Kompetenzen zu erkennen und ihre Entwicklung konstruktiv zu fördern. Die gemeinsame Realisierung religiöser und interreligiöser Lernprozesse durch das pädagogische Fachpersonal, die Eltern und ganz besonders die Kinder nimmt den pädagogischen Anspruch einer konstruktiven und inklusiven frühkindlichen Pädagogik auf und kann so die Lern- und Entwicklungspotentiale religiöser Themen erschließen. Ferner bietet eine bewusste und sensible Förderung religiöser und interreligiöser Kompetenz die Möglichkeit, in einer frühen Bildungssituation Vorurteile abzubauen, wechselseitiges Verständnis nachhaltig zu fördern, andere Religionen besser kennenzulernen und die eigene Religion intensiver zu erfahren. Im Rahmen einer sensiblen Begleitung durch das pädagogische Fachpersonal können diese Lernpotentiale erschlossen werden, wenn Religion und religiöse Vielfalt thematisiert und tatsächlich erlebbar gemacht werden.

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Abstract

"In Turkish God’s Name is Allah…"

Development of Religious and Interreligious Competence in Early Childhood: A Qualitative Explorative Study Carried out in Germany

Empirical research on religious and interreligious dialogue competence is still at an early stage even though religious and interreligious ideas and encounters are part of the everyday experience of many children in German Kindergartens. The project "Development of Religious and Interreligious Competence" carried out at the KIBOR at the University of Tübingen deals with the development of religious and interreligious competence of three-to six-year-old children in the context of cultural and religious plurality. The study is a Germany-wide qualitative survey conducted in child daycare facilities run by different providers. Partially structured and dialogue-sustained interviews were carried out in small groups or individually with 187 children and 24 contact persons of different religions and beliefs. By means of adapted stories the interviews with children capture religious concepts and experiences, discuss issues related to value orientation and existential experiences and study interactional behavior in terms of competence development. This article conceptualizes 'religious and interreligious competence', gives an overview of the design and research methodology of the empirical study and outlines several central research results. Its focus is on presenting religious and interreligious competences of three-to six-year-old children as well as suggesting opportunities for and promotion of competence development. Even in early childhood, children have pronounced religious and interreligious competencies that they actively and independently build up in interaction with others

Key words: Religious and interreligious competence, value orientation, existential experiences, competence development.

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[1] Diese und weitere Ergebnisse finden sich in der Auswertung des Gesamtprojekts. Eine differenzierte Publikation der Projektdaten und -ergebnisse ist für Ende 2017 geplant.