Tübingen Forum for Science and Humanities

Spielarten des Unendlichen

„»Das Unendliche!« Törleß kannte das Wort aus dem Mathematikunterrichte. Er hatte sich nie etwas Besonderes darunter vorgestellt. Es kehrte immer wieder; irgendjemand hatte es einst erfunden, und seither was es möglich, so sicher damit zu rechnen wie nur mit irgendetwas Festem.“ Mit diesen Worten beschreibt Törleß, der Protagonist aus Robert Musils bekanntem Roman, eine Erfahrung, die uns allen geläufig sein dürfte: Mit der "Liegenden Acht" sind wir alle irgendwie vertraut, doch wissen wir nicht so recht, was es damit auf sich hat.  Unendlichkeit ist alles, das grenzenlos oder endlos ist, ob Prozess oder Objekt mit oder ohne Anfang.

Im diesjährigen Studienkolleg wollen wir uns dem Phänomen der Unendlichkeit nähern und besser verstehen, was sich dahinter verbirgt. Wir wollen gemeinsam die Entwicklung des Unendlichkeitsgedankens nachvollziehen und dabei unterschiedliche Wissenschaften in einen Dialog miteinander treten lassen. Im interdisziplinären Austausch soll für uns zwei Semester lang die Frage im Raum stehen, welche Rolle der Begriff Unendlichkeit in verschiedenen Disziplinen spielt und inwiefern sich Querverbindungen herstellen lassen.

Tatsächlich begegnet uns das Unendliche in vielen Spielarten. Die traditionelle Philosophie etwa hat das Unendliche bis in die Neuzeit hinein als Voraussetzung für die Existenz und Erkennbarkeit des Endlichen begriffen. Dasselbe gilt in einem noch stärkeren Sinne für die Theologie, die die Unendlichkeit Gottes als eines seiner Hauptattribute ansieht. Die Physik wiederum sagt uns, dass wir in einem unendlichen Universum leben. Unendlichkeit prägt die Mathematik als Fundament in ihren Disziplinen Mengenlehre, Analysis und selbst der Kombinatorik. Schließlich ließe sich fragen, ob nicht die Wissenschaft als solche auf dem Gedanken des Unendlichen in der Gestalt eines unaufhörlichen, nie abschließbaren Erkenntnisfortschritts fußt.

Zentrale Fragen und Aspekte, die während des Kollegjahres behandelt werden:

  • In der Diskussion von Unendlichkeitsfragen stößt man auf Paradoxien: Was sagen sie aus, was lernen wir aus ihnen über die Unendlichkeit?
  • Wie wird Unendlichkeit mathematisch formalisiert? Warum hat die „liegende Acht“ die Mathematik sogar eine Grundlagenkrise gestürzt? Wie viele verschiedene, widerspuchsfreie Arten von Unendlichkeiten gibt es?
  • Welche Einsichten ziehen wir aus den Unendlichkeitsbegriffen des Mittelalters und der Neuzeit?
  • Was bedeutet Unendlichkeit, wenn mit ihr über räumliche und zeitliche Eigenschaften Gottes, z.B. von Allgegenwart und Ewigkeit, gesprochen wird?
  • Physik und Kosmologie setzen für Bewegung Raum und Zeit voraus. Sind beide unendlich?
  • Die Negation von Unendlichkeit: Sie führt im informationstechnischen Kontext zu den gewünschten Phänomenen der Entscheidbarkeit und Determinismus