Viktimologie – Einblicke in ein Forschungsfeld
Vortrag von Dr. Dr. h.c. Michael Kilchling vom MPI Freiburg/Brsg. im Rahmen des Kriminologisch-Kriminalpolitischen Arbeitskreises
Am Abend des 18. Novembers 2024 fand die erste Veranstaltung des Kriminalpolitischen Arbeitskreises (KrimAK) im Wintersemester 2024/25 statt. In seinem Vortrag mit dem Titel „Viktimologie – Einblicke in ein Forschungsfeld“ brachte Kilchling seinen rund 100 Zuhörerinnen und Zuhörern klassische und neuere Ansätze in der Viktimologie näher und präsentierte einige grundlegende empirische Erkenntnisse des vergleichsweise jungen kriminologischen Forschungsfeldes.
Kilchling ist Senior Researcher am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg im Breisgau und Lehrbeauftragter an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität ebenda. Er wurde bereits 1995 mit einer vielbeachteten Arbeit zu den Opferinteressen im Strafprozess promoviert und konnte in seinem Vortrag als Mitbegründer der Viktimologie in Deutschland „aus dem Nähkästchen plaudern“. Nach einer freundschaftlichen Begrüßung durch Prof. Dr. Jörg Kinzig – beide kennen sich aus ihrer gemeinsamen Zeit am früheren Max-Planck-Institut in Freiburg – stieg Kilchling unmittelbar in sein Thema ein.
Zunächst widmete sich der Referent der historischen Entwicklung der Viktimologie. Sie habe in den USA ihren Ausgang genommen und sei Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre „nach Europa herübergeschwappt“. Seitdem habe sich die Viktimologie nicht nur zu einem wichtigen kriminologischen Forschungszweig entwickelt, sondern es handele sich auch um eine der erfolgreichsten sozialen Bewegungen, wenn es darum gehe, Reformen im Straf(prozess)recht anzustoßen.
Der Schwerpunkt des Vortrags lag auf den klassischen Feldern und den grundlegenden empirischen Erkenntnissen der Viktimologie. Kilchling betonte, dass das Opfer in der viktimologischen Forschung nicht nur Lieferant für Kriminalitätsdaten sei. Vielmehr stünden in der empirischen Opferforschung auch die Erforschung der Anzeigebereitschaft, das dynamische Verhältnis von Opfer und Täter sowie die subjektive Bedeutung unterschiedlicher Opfererfahrungen im Fokus. Der Referent thematisierte außerdem die verschiedenen Dimensionen einer Viktimisierung – so müssten auch Reviktimisierungen durch das soziale Umfeld berücksichtigt werden.
Im Publikum hinterließ, wie an der lebhaften Diskussion im Nachgang abzulesen war, vor allem das sogenannte Verbrechensfurchtparadoxon Eindruck. Dieses beschreibe, so Kilchling, den Effekt, dass Personengruppen mit einem hohen Viktimisierungsrisiko (z.B. junge Männer) im Durchschnitt weniger Angst vor Straftaten hätten als Personenkreise (z.B. ältere Frauen), die seltener Opfer von Straftaten würden.
Der Referent widmete sich sodann neueren Schwerpunkten in der Viktimologie. So nannte er etwa die Untersuchung der Langzeitfolgen von Opfererfahrungen, die opferorientierte Neugestaltung des materiellen Strafrechts sowie einen neuen Fokus auf diskriminierte Personengruppen.
Sodann ging Kilchling dazu über, kursorisch die zahlreichen kriminalpolitischen Reformen darzustellen, die durch die Viktimologie in den vergangenen Jahren angestoßen wurden. Dabei betonte er etwa die positive Bilanz des Täter-Opfer-Ausgleichs im Straffolgenrecht.
Anschließend widmete sich der Vortrag den noch offenen Fragen innerhalb der Viktimologie. Kilchling stellte dar, dass das Opfer in die Strafzwecklehre bisher nicht integriert sei. Weder in der absoluten Straftheorie noch in den relativen Straftheorien werde das Opfer angemessen berücksichtigt. Überdies fehle es hinsichtlich der Opfer-Täter-Karrieren an grundlegenden Forschungsergebnissen. Kilchling ging außerdem auf die fehlende Berücksichtigung von Opferinteressen im Zivilprozess ein.
Abschließend thematisierte der Referent mediale Stereotype über Verbrechensopfer und mahnte an, nicht schon im Vorhinein zwischen Opfern verschiedener Straftaten zu unterscheiden. Opfererfahrungen seien subjektiv und müssten mit Blick auf den Einzelfall gewürdigt werden. Es könne nicht sein, dass z.B. Opfer von Terrorismus sehr viel bessergestellt würden als Opfer anderer (schwerer) Straftaten.
Im Anschluss an den Vortrag gab es Zeit für eine Frage- und Diskussionsrunde. In seinen Schlussworten äußerte Kilchling sein Bedauern über den unzureichenden Stellenwert der Viktimologie, insbesondere im Rahmen der juristischen Ausbildung.
Der zweite Vortrag im KrimAK des Wintersemesters 2024/25 findet am 20. Januar 2025 statt. Dabei wird Frau Prof. Dr. Liane Wörner, LL.M., aus Konstanz zum Thema „Straftat Schwangerschaftsabbruch?“ referieren.
Daniel Heynig