Exzellenzstrategie

Visuelle Wissenschaftskommunikation in der Medizin:

Grafiken als Brücken für den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Visuelles Design ist zu einem besonders effektiven Teilaspekt der Wissensvermittlung avanciert: Gelungene grafische Darstellungselemente und Visualisierungen können dazu beitragen, komplexe Forschungsergebnisse anschaulich zu präsentieren, Kernbotschaften pointiert zu transportieren und Aufmerksamkeit zu schaffen.

Genau an dieser Schlüsselstelle für moderne Kommunikation setzt das Praxisprojekt „Visuelle Wissenschaftskommunikation in der Medizin“ an: Als Lehrkooperation zwischen dem Bereich Knowledge Design sowie der Universitätsklinik für Allgemeine, Viszeral- und Transplantationschirurgie in Tübingen leitet es die teilnehmenden Studierenden zur Umsetzung eines konkreten Projektes aus dem Bereich der medizinischen Wissenschaftskommunikation an. Dabei arbeiten Studierende der Rhetorik, Medizin und Biologie in interdisziplinären Teams zusammen, um relevante medizinische Themen mit Visualisierungen zu veranschaulichen und für breite Adressatengruppen leichter zugänglich zu machen.

Als Initiatoren und Kursleiter stehen Michael Pelzer (Allgemeine Rhetorik) und Dr. Markus Löffler (Allgemeine Chirurgie / Immunologie) hinter dem Projekt.

Visualisierungen und Projektberichte aus dem Pilotseminar

Das Projekt startete im Sommersemester 2021 mit einem Pilotseminar, bei dem aktuelle Forschung zu chirurgischen Eingriffen während der Coronavirus-Pandemie, etwa zu veränderten Risiken und entsprechenden Optionen der Risikoverminderung, im Mittelpunkt stand.

Hintergrund zum Pilotseminar

Durch die Coronavirus-Pandemie ist die individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung als Basis für medizinische Entscheidungen, etwa mit Blick auf die Wahrnehmung von planbaren chirurgischen Eingriffen, zu einem dringlichen Aspekt in der Lebenswelt vieler betroffener Menschen geworden. Ein Kernziel unseres Pilotkurses war es daher, den großen Aufklärungs- und Informationsbedarf in diesem Kontext zu adressieren. Konkreter inhaltlicher Bezugspunkt waren dabei Studienergebnisse, die auf der Forschung des globalen Wissenschaftsnetzwerkes COVIDSurg basieren.

Das Seminar hat die Erarbeitung von Visualisierungen unterstützt, die Kerneinsichten aus diesem Zusammenhang exemplarisch veranschaulichen. Zudem schuf die aktive Vernetzung zwischen den Kursteilnehmenden sowie internationalen Expertinnen und Experten der COVIDSurg Collaborative einen wichtigen methodischen Ansatzpunkt, um tiefere und persönliche Einblicke in die Thematik zu ermöglichen.

Während insgesamt sechs interaktiven Workshop-Sitzungen erhielten die Teilnehmenden eine Einführung zu Grundlagen der visuellen Wissenschaftskommunikation sowie zu Basisaspekten der COVIDSurg Forschung – und entwickelten darauf aufbauend in eigenständiger Projektarbeit schrittweise Visualisierungen. Im Rahmen der Feedbacksitzungen zu den Werkstücken konnten wir zudem ergänzend auf die wertvolle Expertise der Visualisierungsspezialistin Johanna Barnbeck sowie des Science Notes Redakteurs Bernd Eberhart zurückgreifen.

Zum thematischen Rahmen von COVIDSurg

Mit über 15 000 Mitgliedern gehört das Wissenschaftsnetzwerk COVIDSurg zu den größten Forschungsnetzwerken der Welt. Es entstand mit sehr großer Geschwindigkeit im Frühjahr 2020, kurz nachdem der Ausbruch des SARS-CoV-2 Coronavirus durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Pandemie erklärt worden war. Vor dem Hintergrund dieser neuen Situation stellten sich weltweit zahlreiche neue Herausforderungen durch die Pandemie und Fragen für die medizinischen Versorgung, die etwa Patientinnen und Patienten, die eine Operation benötigten, akut betreffen: Steigt das Komplikationsrisiko nach Operationen durch eine COVID19-Erkrankung? Sind bestimmte Patientengruppen besonders gefährdet? Gibt es fortbestehende Risiken für Patientinnen und Patienten nach einer überstandenen Coronavirus-Infektion? Gibt es Maßnahmen, um die Risiken zu vermindern? Um solche und andere relevante Fragen durch internationale Studien zu beantworten und möglichst rasch zu fundierten und evidenzbasierten Ergebnissen zu gelangen, fand sich die COVIDSurg Collaborative als global vernetzte Forschungsinitiative zusammen.

Beiträge aus Tübingen

Von Beginn haben sich auch Ärztinnen und Ärzte sowie Forscherinnen und Forscher der Universität Tübingen maßgeblich  an der COVIDSurg Collaborative beteiligt.

So konnten etwa unter der Leitung von Prof. Dr. Alfred Königsrainer, Dr. Markus Löffler und Dr. Markus Quante auch Daten zu Patientinnen und Patienten aus Tübingen zu zwischenzeitlich drei großen internationalen Studien beitragen. Ziel war es dabei stets, angesichts der neuen Herausforderungen durch neue Erkenntnisse die sichere Patientenversorgung zu unterstützen. Eine Übersicht von Publikationen, die bislang im Rahmen der COVIDSurg Collaborative entstanden sind, findet sich auf der Website der Initiative.

Zwei zentrale Studien, die im Rahmen unseres Kurses für Visualisierungen herangezogen wurden, stellen wir unten etwas detaillierter vor.

Die Ausgangsstudie: Alarmierende Erkenntnisse zur Sterblichkeitsrate

Die erste Kohortenstudie startete in Tübingen im März 2020 - und schon Ende Mai 2020 konnte eine Auswertung dieser Daten in der international renommierten Zeitschrift The Lancet veröffentlicht werden.

Die Studie hatte Daten von 1128 Patienten aus 24 von der Pandemie betroffenen Ländern ausgewertet die sich vor bzw. kurz nach einer Operation mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert hatten. Die Auswertung der dabei erhobenen Zahlen zeichneten ein alarmierendes Bild: Die Gesamtsterblichkeit in der Patientenkohorte innerhalb des ersten Monats nach einer Operation lag ganz zu Beginn der Pandemie bei infizierten Patienten mit 23,8 % unverhältnismäßig hoch. Von dieser massiven Steigerung betroffen waren Patientinnen und Patienten dabei nicht nur nach Notfalloperationen und großen chirurgischen Eingriffen, sondern auch nach kleineren und planbaren Operationen. Die Sterblichkeit war insbesondere bei älteren Männern (über 70 Jahre) und bei Patienten mit schweren Vorerkrankungen wie Krebs besonders hoch.

  • UKT Pressemeldung
  • COVIDSurg Collaborative: Mortality and pulmonary complications in patients undergoing surgery with perioperative SARS-CoV-2 infection. An international cohort study. In: Lancet 396 (2020), 27-38; Erstveröffentlichung am 29. Mai 2020. Online abrufbar: https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31182-X.

Wann sind Operationen nach Coronavirus Infektionen wieder sicher?

Mit den oben erwähnten Ergebnissen der im Fachjournal The Lancet publizierten Ausgangsstudie war klar, dass die chirurgische Versorgung während der Pandemie einige relevante Probleme hatte: nicht nur die Verschiebungen und Absagen von Operationen hatten neue Probleme mit sich gebracht, sondern Coronavirus stellte eine Gefährdung für jeden infizierten chirurgischen Patienten dar. Um unter diesen stark veränderten Bedingungen die chirurgische Versorgung trotzdem möglichst umfassend sicherzustellen, stellten sich zahlreiche drängende Anschlussfragen, darunter nicht zuletzt: Wann können planbare (elektive) Operationen nach einer COVID-19 Erkrankung wieder ohne erhöhtes Risiko durchgeführt werden?

Basierend auf Daten von über 140 000 Patientinnen und Patienten (aus 1 674 Kliniken in insgesamt 116 Ländern) konnte die COVIDSurg Collaborative nachweisen, dass Operationen, die bis zu sechs Wochen nach einer Infektion mit dem Coronavirus stattfanden, mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergingen. Dementsprechend haben Patienten mit positivem Coronavirus-Testbefund während dieses Zeitraums ein mehr als verdoppeltes Risiko in der Folge einer Operation zu versterben als ohne die Infektion – und das unabhängig von einer weiterbestehenden Erkrankungssymptomatik. Entsprechende Effekte waren einheitlich über alle Altersgruppen hinweg und unabhängig vom der Schweregrad der Begleiterkrankung, der Dringlichkeit der Operation oder vom Ausmaß des Eingriffs nachweisbar. Diese Ergebnisse sind deshalb direkt relevant für die Patientenversorgung in der Chirurgie.

  • UKT Pressemeldung
  • COVIDSurg Collaborative: Timing of surgery following SARS‐CoV‐2 infection. An international prospective cohort study. Anaesthesia 76 (2021), 731–735; Erstveröffentlichung am 09. März 2021- Online abrufbar: https://doi.org/10.1111/anae.15458.

Als konkrete Beispiele für einige der Ergebnisse und Arbeitsprozesse des Pilotseminars haben zwei unserer interdisziplinären Beitragsteams Projektberichte verfasst:

Annika Henner (Allgemeine Rhetorik) und Iaroslav Sautkin (PhD Studiengang Experimentelle Medizin) haben sich mit Fragen der Entscheidungs- und Terminfindung bei planbaren chirurgischen Eingriffen beschäftigt. Ihre Grafiken fassen Grundaspekte und Handlungsvorschläge zusammen, auf deren Basis Patientinnen und Patienten ihr individuelles Risiko und den Nutzen von geplanten operativen Eingriffen gemeinsam mit ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten erörtern können:

In einer weiteren Gruppe beschäftigten sich Linda Brake und Franziska Orth (beide Humanmedizin) mit der Entwicklung des Mortalitätsrisikos bei chirurgischen Eingriffen, die kurz nach Coronavirus-Infektionen durchgeführt werden, sowie mit der Entwicklung von Organtransplantationszahlen in Deutschland seit dem Beginn der Pandemie. Darüber hinaus gestaltete Sarah Polzer (Allgemeine Rhetorik) als drittes Gruppenmitglied eine bebilderte Interviewserie zu einigen der Expertinnen und Experten des tausende Mitglieder zählenden internationalen COVIDSurg Wissenschaftsnetzwerks. Alle interviewten standen uns auch im Kurs unterstützend zur Seite: