03.05.2011
Lokale Skandale
Der Journalist und Buchautor Rainer Nübel über die Kunst der Recherche und die Gefahr des Distanzverlustes – Einladung zur Ringvorlesung der Tübinger Medienwissenschaft
Am 25. April 2007 wird die junge Streifenpolizistin Michéle Kiesewetter gegen 14 Uhr auf dem großen Heilbronner Parkplatz „Theresienwiese“ mit einem Kopfschuss getötet. Ihr Kollege überlebt mit lebensgefährlichen Verletzungen. Die Täter nehmen der toten Beamtin u.a. die Dienstwaffe und Handschellen ab. Zwei Monate später teilen die Ermittlungsbehörden mit, dass am Streifenwagen der ermordeten Polizistin die DNA-Spur einer unbekannten Frau gefunden worden sei, die in den vergangenen Jahren zahlreiche Verbrechen in Mitteleuropa begangen habe, darunter zwei weitere Morde. Fortan berichten nationale und internationale Medien über die „Phantom-Killerin von Heilbronn“, zwei Jahre lang wird nach ihr gefahndet. Heute ist längst klar: Die „Phantom-Killerin“ hat es (der Mord ist noch immer unaufgeklärt) nie gegeben. Aber es gab stabile Vorurteile und ein großes Maß an Ignoranz, falsche Spuren und eine weitgehend unkritische Berichterstattung der Medien.
In seinem Vortrag auf Einladung der Tübinger Medienwissenschaft beschreibt Rainer Nübel – Journalist und Mitglied der renommierten Reportageagentur Zeitenspiegel – das „Phantom von Heilbronn“ als eine Schlüsselgeschichte, die von der allgemein menschlichen Tendenz zur Selbstbestätigung handelt, von der Gefahr des Irrtums, von unserer Neigung, einmal Erkanntes allzu rasch als Gewissheit auszugeben. Er zeigt, was es heißt, unvoreingenommen zu recherchieren, tatsächliche und vermeintliche Skandale zu unterscheiden – und auch bei heiklen Themen die nötige Portion Unabhängigkeit zu wahren. Investigativer Journalismus, so Nübel, braucht den reflektierten Balanceakt zwischen Nähe und Distanz. Wer nur Distanz hält, bekommt keine Informationen. Wer hingegen allzu sehr in das jeweilige Milieu eintaucht, gefährdet seine Autonomie, lässt sich einbinden und auf eine Version des Geschehens festlegen. Rainer Nübel: „Das „Schmiergeld namens Nähe“ bedingt, dass sich Journalisten bei Skandalen häufig lenken lassen.“
Der Vortrag ist öffentlich und findet im Rahmen der medienwissenschaftlichen Ringvorlesung „Der Skandal und die Medien“ statt. Interessierte sind herzlich willkommen.
Termin: Donnerstag, 5. Mai 2011, 18.15 bis 19.45 Uhr
Ort: Kupferbau, HS 25, Hölderlinstraße 5, 72074 Tübingen
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