Kinderkriminalität“ im Recht und in der Realität
Am Abend des 18. November 2019 referierte Herr Seniorprofessor Dr. Hans-Jürgen Kerner vor knapp 150 Zuhörerinnen und Zuhörern in Hörsaal 9 zum Thema „'Kinderkriminalität' im Recht und in der Realität“.
Kerner, der vor allem das Hellfeld beleuchtete, wählte als Einstieg in seinen Vortrag drei wahre Fälle von Kinderkriminalität, die ihm in seinem privaten Umfeld in den letzten Jahrzehnten begegnet waren. Besonders an dieser Form der Delinquenz sei, dass die Täter zwar begrifflich gemäß § 19 StGB bis zu einem Alter von 14 Jahren schuldunfähig, jedoch nicht „unschuldig“ hinsichtlich ihres begangenen Verhaltens seien.
Im Folgenden stellte Kerner „Causes Célèbres“ aus dem Ausland vor, die zeigten, dass in Einzelfällen Kinder erhebliche Straftaten, bis hin zu Tötungsdelikten, begingen. Fälle im deutschsprachigen Raum seien bisher nicht ganz so schwerwiegend. Nur ein geringer Anteil von schwerstdelinquenten Kindern (sogenannte KITS) entwickele sich zu sogenannten Intensivtätern im Jugendlichen- (JITS) und Heranwachsendenalter (HITS). Kriminologisch könne hier von einer frühen Hinentwicklung zur Kriminalität gesprochen werden.
Der statistische Normalfall der Kinderkriminalität hingegen beschränke sich primär auf leichtere Taten wie einfache Sachbeschädigungs- und Diebstahlsdelikte. Dass diese Daten in der Polizeilichen Kriminalstatistik erst ab einem Alter von acht Jahren ausgewiesen würden, ergebe sich daraus, dass zuvor erheblichere Unsicherheiten in der statistischen Erfassung bestünden. Bereits in jungen Jahren zeige sich die höhere Delinquenzbelastung des männlichen gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Interessant sei, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen früher den Höhepunkt der registrierten Straftaten erreichten. In Bezug auf die Gewaltkriminalität sei erfreulicherweise im Laufe der Jahre ein Rückgang zu verzeichnen.
Anhand von Zahlen für das Land Baden-Württemberg ging Kerner vergleichend auf deutsche und nichtdeutsche Kindertäter ein. Hierbei seien die Nichtdeutschen überrepräsentiert, was jedoch unter anderem darauf zurückzuführen sei, dass auch illegal mit ihren Eltern einreisende Kinder als Straftäter erfasst würden. Dennoch sei hierdurch die Überrepräsentation nicht vollständig zu erklären. Umgekehrt gelte aber auch, dass 99 von 100 deutschen und 97 von 100 nichtdeutschen Kindern amtlich unauffällig blieben.
Immer wieder erreichten hingegen schwere Fälle die mediale Öffentlichkeit und ließen einen Ruf nach einer Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters laut werden. Hierzu gab Kerner einen historischen Überblick von der Constitutio Criminalis Carolina aus dem Jahr 1532 über das Recht in den Partikularstaaten und im Kaiserreich bis hin zur strafrechtlichen Gegenwart.
Dass das aktuelle Grenzalter von 14 Jahren keineswegs zwingend sei, zeige der internationale Vergleich mit anderen europäischen Staaten und den Vereinigten Staaten von Amerika. Jedoch komme die in Deutschland festgelegte Strafmündigkeitsgrenze bei einer Spannweite von null – faktisch eher fünf – bis 18 Jahren international häufig vor.
Kerner betonte abschließend, dass auch ohne eine strafrechtliche Ahndung von Kinderkriminalität eine Palette staatlicher Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehe. Der Satz „Unter 14 geschieht den jungen Kriminellen bei uns ja gar nichts“ sei zu hinterfragen. Insbesondere sei auf die Kompetenzen der Jugendämter und Familiengerichte hinzuweisen, die etwa die „Heimerziehung“ nach dem Kinder- und Jugendhilferecht sowie die Beschränkung und den Entzug der Personensorge anordnen könnten. Nicht außer Acht zu lassen seien ferner die zivilrechtlichen Folgen nach dem Schadensersatzrecht. Darin seien die Kinder schon im Alter von sieben Jahren graduell deliktsmündig. Hier gälten zudem die Beweisregeln des Zivilrechts und nicht die strafrechtliche Unschuldsvermutung. Auch könne es zu Fällen einer Gesamthaftung delinquenter Kinder kommen.
Der Vortragende zog hieraus die von der deutlichen Mehrheit der Fachleute geteilte Schlussfolgerung, dass die Strafmündigkeitsgrenze von 14 Jahren beibehalten und auch für Jugendliche Strafrecht „Ultima ratio“ bleiben solle. Das bestehende System ermögliche es durch seine Alternativen, diesem Grundsatz gerecht zu werden und biete zudem eine wirksame Reaktion auf Kinderdelinquenz.
An den Vortrag schloss sich die Beantwortung offengebliebener Fragen aus dem Publikum an. Hierbei wurden insbesondere Bezüge zum Dunkelfeld hinsichtlich der sozialen Differenzierung der jungen Straftäter sowie die Gründe für den Rückgang der Gewaltkriminalität unter Kindern erörtert.