Philologisches Seminar

Erdung


1. Carm. 31: Alles fließt 

Selina Heller, Katrin Borner

1936 Wörter, Lesedauer: ca. 6 Minuten

Sirmio, aller Halbinseln und Inseln
Augenstern, aller, die in klaren Seen und
im unermesslichen Meer trägt der doppelte Neptun!
Wie gerne und wie froh erblicke ich dich,
kaum mir selbst glaubend, dass ich Thynien und die bithynischen
Felder hinter mir gelassen habe und dich wohlbehalten sehe!
Oh, was für ein größeres Glück gibt es, als von Sorgen befreit zu sein,
wenn der Geist seine Bürde ablegt und wir, von Mühsal
in der Fremde ermattet, zu unserem eigenen Herz gekommen sind
und im ersehnten Bett ausruhen?
Das ist es, was einzig so große Mühe aufwiegt.
Sei gegrüßt, o liebliches Sirmio, und freu dich an deinem Herrn,
der sich freut, und ihr, lydische Wellen des Sees,
lacht heraus alles, was ihr zur Verfügung habt an Gelächter!

(Übersetzung: Holzberg 2009, 43)

Paene insularum, Sirmio, insularumque
ocelle, quascumque in liquentibus stagnis
marique vasto fert uterque Neptunus,
quam te libenter quamque laetus inviso!
Vix mi ipse credens Thuniam atque Bithynos            5
liquisse campos et videre te in tuto.
O quid solutis est beatius curis,
cum mens onus reponit, ac peregrino
labore fessi venimus larem ad nostrum,
desideratoque acquiescimus lecto?   10
Hoc est quod unum est pro laboribus tantis.
Salve, o venusta Sirmio, atque ero gaude.
Gaudete, vosque,o Lydiae lacus undae.

Im Folgenden wird carm. 31 unter der Frage beleuchtet, ob Sirmio lediglich ein Sehnsuchtsort des lyrischen Ichs ist oder auch Züge einer anthropomorphen Gestalt trägt.

Hinführung

Carm. 31 versetzt die Leserinnen und Leser nach Sirmio, einer Halbinsel, die am Südufer des Gardasees liegt und auch heute noch als beliebtes Reiseziel gilt. Das Gedicht berichtet von der Heimkehr des lyrischen Ichs und zeigt seine besondere Beziehung zu diesem Ort auf.

Dabei malt der elegische Dichter den Leser:innen eine Insellandschaft mit verschiedenen Gewässern vor Augen. Eingangs erwähnt er sowohl Inseln als auch Halbinseln, deren Augenstern Sirmio ist. Zu dieser Beschreibung der Heimat zählen auch der Herd und das Bett als Symbole eines Zuhauses. Dazu treten nun ein klarer See sowie die Weiten des Meeres. Dadurch bekommen die Leser:innen das Gefühl, dass sich ihr Blick so weitet, als ob sie die ganze Welt überblicken könnten. Das Verschwimmen der Landschaften findet sich auch in der Wassermetaphorik vor: Die Thematik des Flüssigen wird im Lateinischen bereits durch die Verwendung des Verbes liquisse (v. 6) angedeutet, wobei es sich um eine Homographie handelt. Vor diesem Hintergrund wird das lateinische Wort in der vorliegenden Übersetzung von carm. 31 mit ‚verlassen‘ (von linquere) übersetzt, könnte allerdings auch ‚flüssig sein‘ (von liquere) bedeuten. Dieser Eindruck, dass alles flüssig ist und verschwimmt, wird im Gedicht an mehreren Stellen erweckt. Dem liegt eine Ambiguität zugrunde, die in diesem Beitrag als Mehrdeutigkeit verstanden wird. Dabei handelt es sich um verschiedene mögliche Lesarten, die sich jedoch nicht ausschließen müssen. Vielmehr verschwimmen die Grenzen. Dieses ambige Phänomen zeigt sich auch bei der dem Artikel zugrunde liegenden Frage, inwieweit es sich bei Sirmio um eine Insel oder gar um eine anthropomorphe Gestalt handelt.

Sirmio als Anthropomorphismus?

Um diese Frage beantworten zu können, kann es hilfreich sein, einen Blick auf die gewählte Sprache zu werfen. Schließlich liegt eine Besonderheit des Gedichts darin, dass man nicht nur eine Beschreibung der Landschaft wie in klassischen Naturgedichten vorfindet, sondern vor allem die Gefühle des lyrischen Ichs miterlebt, die ihn beim Wiedersehen seiner Heimat durchströmen. So finden sich im carm. 31 verschiedene Stilmittel, die die Gefühle des Rückkehrenden deutlich zum Ausdruck bringen: Zunächst lassen sich gefühlsbetonte, preisende Anrufe und Interjektionen (z.B. ‚o liebliches Sirmio‘: v. 12) ausmachen, die sich an Sirmio richten. Des Weiteren drücken auch die Attribute und Adverbien die Gefühlswelt des lyrischen Ichs aus. Diese werden sogar deutlich gesteigert: Beginnend mit Begriffen wie ‚gerne, froh, und befreit‘, über ‚größeres Glück‘, wird Sirmio letztlich als ‚lieblich‘ charakterisiert. Unterstrichen wird dies auch durch die Beschreibung der zwei verschiedenen Landschaften und die dafür verwendeten Antithesen: Sirmio mit seinen lachenden Gewässern und der Komfort der Heimat mit dem eigenen Bett wird Bithynien gegenübergestellt, das als Symbol der harten Arbeit gilt. Der starke Gefühlsausdruck entsteht außerdem dadurch, dass der elegische Dichter Sirmio personifiziert: Im ersten Vers bezeichnet er Sirmio als ‚Augenstern‘ (ocelle) sowie als ‚liebliche‘ Insel (venusta Sirmio: v. 12). Diese Personifikationen werden im zwölften Vers sogar intensiviert: Die Insel Sirmio kann schließlich die Freude des Herrn erwidern und selbst Freude emp- finden. Die Personifizierungen lassen Sirmio daher zunehmend als menschliche Gestalt erscheinen.

Folglich zeigt sich bei genauem Betrachten, dass viele Emotionen in diesen Versen stecken. Hans Peter Syndikus zufolge ist dies das Eigentümliche an Catulls Gedicht, „daß alle Einzelmotive in einem Strom überquellenden Gefühls eingeschmolzen scheinen“ (2001, 186). So zeichnet sich auch auf der Gefühlsebene ein starkes Verschwimmen ab, diesmal eines der Emotionen. Dieses starke Ergriffensein lässt darauf schließen, dass Sirmio definitiv ein Sehnsuchtsort für das lyrische Ich ist. Zugleich können die beschriebenen Gefühle und Sehnsüchte besonders durch die gewählte Ausdrucksweise den Anschein erwecken, als sei der Adressat des lyrischen Ichs nicht nur eine Insel, sondern gar ein menschliches Gegenüber.

Sirmio als Geliebte(r)?

Neben der gefühlvollen Wortwahl in carm. 31 fällt außerdem eine weitere Komponente in Catulls Sirmio-Gedicht auf: Bei vielen Ausdrücken handelt es sich um klassische Begriffe der lateinischen Liebesdichtung. Bereits der Begriff ‚Augenstern‘ im zweiten Vers des Gedichtes weist Doppeldeutigkeiten auf, wodurch hier nicht nur das Stilmittel der Personifikation vorliegt. Der Vokativ, der normalerweise ausschließlich als Anrede von Personen verwendet wird, wird hier zu einer Ding-Apostrophe der Heimat des lyrischen Ichs. Catull verwendet die Begrifflichkeit ocelle in seinen Gedichten nur ein weiteres Mal, und zwar mit einer eindeutigen erotischen Konnotation bezüglich des Dichters Gaius Licinius Macer Calvus (vgl. carm. 50.19). Dies kann ein erster Hinweis darauf sein, dass sich ‚Augenstern‘ entweder auf die Schönheit der Insel oder auf eine Person beziehen kann. Darüber hinaus passt das verwendete Diminutiv als Verkleinerungsform von oculus (‚Auge‘) zum kallimachäischen Motiv des Kleinen und Verspielten. So wird dadurch deutlich, dass Sirmio dem lyrischen Ich ans Herz gewachsen ist. Als weitere Personifikation wurde bereits ‚liebliches Sirmio‘ (v. 12) herausgearbeitet. Diese beinahe liebkosende Wortwahl legt zurecht den Gedanken nahe, dass das lyrische Ich in einer menschlichen Beziehung zu Sirmio, wenn nicht sogar in einer Liebesbeziehung zu der Insel steht. Dazu passt auch, dass das gewählte Adjektiv venustus etymologisch mit der Göttin der Liebe, Venus, verwandt ist. In jedem Fall werden Sirmio hier menschliche Eigenschaften zugesprochen. Die Sehnsucht nach dem Bett (vgl. v. 10) soll ein letztes Element in dieser Untersuchung für eine besondere Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und Sirmio darstellen. Im Kontext der bereits analysierten Begrifflichkeiten lässt sich diese Erwähnung nämlich als Verlangen nach einem sexuellen Akt im Bett interpretieren. Daher stellt sich nun die berechtigte Frage, ob in carm. 31 eine ambige Leseweise in Bezug auf Sirmio vorliegt und vor diesem Hintergrund als Geliebte(r) Catulls zu verstehen ist.

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist es sinnvoll, einen Blick in die antike Liebesdichtung anderer Autoren zu werfen. Dabei lässt sich eine Tendenz zur Erotisierung der Natur erkennen. So berichtet der Dichter Ovid in seinen Metamorphosen zum Beispiel von der Verwandlung der Nymphe Daphne in einen Lorbeerbaum, um dem liebeskranken Apoll zu entkommen. Letztlich liebt Apoll sogar den Lorbeerbaum und fühlt sich von ihm sexuell angezogen (vgl. Ov. Met. 1.452ff.). Darüber hinaus ist der locus amoenus (‚lieblicher Ort‘) ein häufiger literarischer Topos, der sich beispielsweise in der Dichtung Theokrits oder in Vergils Eklogen finden lässt. Dieser Ort bildet oft den Schauplatz für das Zusammentreffen zweier Liebenden und wird als fruchtbare und lebendige Gegend mit erfreulich bewerteten Details wie Bäumen, Brunnen oder Bächen dargestellt. Diese intertextuellen Bezüge können bestätigen, dass in antiker Literatur Orte mit erotischen bzw. liebesfrohen Inhalten gefüllt werden. Daher scheint es nicht untypisch zu sein, sexuelle Metaphern in antiker Dichtung über Orte anklingen zu lassen. Die Gefühle, die das lyrische Ich bei seiner Heimkehr empfindet, finden in carm. 31 einen speziellen Ausdruck, der auf eine vorliegende Ambiguität hindeutet. Dies lässt zwar die Vermutung zu, dass das lyrische Ich mit Sirmio auf eine geliebte Frau bzw. einen geliebten Mann anspielt, letztlich lässt sich diese mögliche Interpretation jedoch nicht mit Sicherheit belegen.

Vielmehr lassen sich die sexuell ambig anmutenden Ausdrucksformen in carm. 31 daher, entgegen der Annahme, Sirmio als eine(n) sexuelle(n) Geliebte(n) zu verstehen, treffend mit der Redeweise ‚Home is where your heart is‘ zusammenfassen: So zeigt die unbeschreibliche Freude des lyrischen Ichs über seine Rückkehr, dass es mit ganzem Herzen an Sirmio hängt. Dazu passt auch die Einschätzung von Charles Witke: „Sirmio is no longer a place on the map but a spot in the heart“ (1972, 241). Durch diese enge Verbundenheit findet in einer gewissen Weise eine Vermenschlichung der Insel statt.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass carm. 31 aufgrund seiner Tiefe und Komplexität alles andere als griffig ist. Der Ambiguitätsaspekt wurde in diesem Beitrag vor allem daraufhin untersucht, welche Lesarten für Sirmio möglich sind: Sirmio kann so als Insel, Person oder gar Geliebte(r) verstanden werden. Dabei schließen sich die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten nicht unbedingt aus. Der Text gibt verschiedene, mehrdeutige Interpretationen, die sich zu ei- nem ambigen Bild auflösen lassen. Dadurch werden sowohl objektive als auch anthropomorphe Lesarten zugelassen. Vor diesem Hintergrund ist es sogar möglich, dass sich die verschiedenen Einzelheiten der dargestellten Landschaft zu einer menschlichen Gestalt zusammensetzen. Als wichtigster Beleg hierfür kann die durchgängige Verwendung des Stilmittels der Personifika- tion gelten. Abschließend lässt sich entsprechend der Wassermetaphorik in carm. 31 zusam- menfassen: ‚Alles verschwimmt‘, wodurch das Gedicht sehr vielschichtig wirkt.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte. Düsseldorf.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.

Sekundärliteratur
Baker, Robert J. (1983). “Catullus and Sirmio”. In: Mnemosyne 36, 316–323.
Cairns, Francis (2012). Roman Lyric. Collected Papers on Catullus and Horace, Berlin.
Godwin, John (1999). Catullus. The Shorter Poems, Warminster.
Syndikus, Hans Peter (2001). Catull. Eine Interpretation. Erster Teil: Die kleinen Gedichte (1–60). Darmstadt.
Thomson, Douglas (2003). Catullus. Edited with a Textual and Interpretative Commentary. 2. Aufl. Toronto.
Witke, Charles (1972). “Verbal Art in Catullus, 31”. In: The American Journal of Philology 93, 239–251.


2. Carm. 101: Der Tod des Bruders – Männliche oder weibliche Trauer?

Chiara Anhäuser, Franziska Klein

1559 Wörter, Lesedauer: ca. 5 Minuten

Durch viele Völker Gebiete und über viele Meere gefahren,
komme ich jetzt, Bruder, zu diesem traurigen Totenopfer,
um dich mit der letzten Gabe für einen Toten zu beschenken
und die stumme Asche vergebens anzureden,
da nun einmal das Schicksal mir dich selbst weggenommen hat,
wehe, armer Bruder, mir unverdient entrissen!
Empfange aber jetzt dennoch dies, was nach alter Väter Sitte
dargebracht wurde als trauriges Geschenk für das Totenopfer
und reichlich benetzt ist von Brudertränen,
und auf ewig, Bruder, sei mir gegrüßt und leb wohl!

(Übersetzung: Holzberg 2009, 187)

Multas per gentes et multa per aequora vectus
advenio has miseras, frater, ad inferias,
ut te postremo donarem munere mortis
et mutam nequiquam alloquerer cinerem,
quandoquidem fortuna mihi tete abstulit ipsum,     5
heu miser indigne frater adempte mihi!
nunc tamen interea haec, prisco quae more parentum
tradita sunt triste munere ad inferias,
accipe fraterno multum manantia fletu
atque in perpetuum, frater, ave atque vale. 10

Im vorliegenden Gedicht bewältigt Catull den Schmerz über den Verlust seines Bruders, indem er Merkmale von weiblicher und männlicher Trauerbewältigung aufzeigt und diese miteinander vermischt. Somit ergibt sich in der Art der Trauer und den damit verknüpften Rollenvorstellungen eine gewisse Ambiguität. Das eigentlich starre, unvereinbare Konzept der männlichen und weiblichen Trauer wird durch Catulls Mischung aufgeweicht. Dies erfolgt im Gedicht sowohl auf inhaltlicher als auch sprachlicher und intertextueller Ebene.

‚Durch viele Völker Gebiete und über viele Meere gefahren‘ (Multas per gentes et multa per aequora vectus: v. 1) – Was so beginnt, kann doch nur ein heldenhaftes Epos sein: sprachlicher Pathos, eine lange Reise und noch dazu eine Anspielung auf das Proömium der Odyssee. Liest man aber weiter, so wird schnell klar: Hier geht es nicht um einen Helden, hier geht es nicht um die Erzählung von Irrfahrten, hier geht es einzig und allein um den Tod eines geliebten Menschen und um die anschließende Trauer.

Während in der Antike in der Regel klar zwischen männlicher und weiblicher Trauer unterschieden wird, so scheint sich in diesem Gedicht beides zu vermischen. Heroisch, episch, männlich – das ist der Anfang. Doch bereits ab dem zweiten Vers mischen sich deutlich weichere und femininere Töne in den zunächst heldenhaften Stil. Wie schon in vorherigen Analysen gezeigt wurde, ist die Ambiguität ein wiederkehrendes Motiv in Catulls Corpus. Und auch in carm. 101 ist sie omnipräsent. Doch worin zeigt sich diese Ambiguität? Betrachten wir dazu erst einmal, auf welche Weise Frauen und Männer im alten Rom trauerten.

Trauer im alten Rom

In der Antike war es nichts Außergewöhnliches, dass von Männern und Frauen jeweils eine andere Art des Trauerns ‚erwartet‘ wurde. Frauen trauerten möglichst lange und intensiv um ein verstorbenes Familienmitglied oder einen Freund. Sie durften von starken Gefühlen bewegt werden und diese auch nach außen hin zur Schau stellen. Alles in allem stand der Tote ganz im Zentrum ihrer Handlungen und Gefühle (vgl. Seider 2016, 289). Die Männer hingegen sollten nur für kurze Zeit trauern und dabei ihre Pflichten nicht aus den Augen verlieren. Emotionen sollte ein Mann damals lieber verstecken, denn Gefühle in der Öffentlichkeit zu zeigen bedeutete die Kontrolle zu verlieren und schwach zu sein (vgl. Stevens 2003, 171). Um darzustellen, auf welche Weise Catull diese Ambiguität von weiblicher und männlicher Trauer erzeugt, werden die beiden Aspekte nun getrennt voneinander untersucht.

Männliche Trauer

Bereits der erste Vers, als Anspielung auf das Proömium der Odyssee, erinnert an den griechischen Helden und seine Irrfahrten. Das lyrische Ich reiht sich in die Riege der epischen Heroen ein und hebt so gleich zu Beginn seine eigene Maskulinität hervor. Die Leserschaft erfährt bereits in den Gedichten 65 und 68b, dass Catulls Bruder in der Nähe von Troja begraben worden ist. Damit fügt sich der Bestattungsort in Carmen 101 wunderbar in dieses bei den Leser:innen hervorgerufene Bild ein und schwebt als dauerhafter Bezug zu Odysseus über dem gesamten Gedicht. Darüber hinaus sind es dann vor allem aber die Handlungen Catulls, die dem Gedicht ein männliches Ansehen verleihen: die lange Reise, die das lyrische Ich auf sich nimmt, der Besuch des Grabes als verstandene Bruderpflicht und nicht zuletzt die Begräbnisriten. Diese aufgeführten Handlungen implizieren eine hohe Mobilität, Aktivität und Handlungsmacht, was wiederum typisch männliche Attribute sind. Wohingegen die Frau den passiveren, immobileren und schwächeren Part einnimmt.

Die angesprochenen Begräbnisriten bringt Catull, verstreut über das gesamte Gedicht, immer wieder zum Vorschein. Sowohl das Zwiegespräch mit dem Toten als auch die ‚Totengaben‘ (munera: in der Regel Honig, Milch, Blumen oder Wein) sind zur damaligen Zeit feste Elemente des Begräbniskults (vgl. Hope 2018, 386). Eine weitere Tradition, die man vielleicht erst auf den zweiten Blick wahrnimmt, besteht in der mehrmaligen ‚Nennung‘ des Toten, der sogenannten conclamatio. Dabei rufen die Familienangehörigen unmittelbar nach dem Tod mehrmals den Namen des Verstorbenen, so auch Catull, der seinen Bruder dreimal anruft (frater: v. 2, 6, 10). Dass die Anrede dabei immer an derselben Stelle im Vers zu finden ist, unterstreicht nur umso deutlicher die ritenhafte Verwendung des Wortes. Und auch die Schlussworte des Gedichts ‚sei … gegrüßt und leb wohl‘ (ave atque vale: v. 10) entstammen den römischen Bestattungsritualen, sei es als Inschrift auf Grabsteinen oder als standardisierter Ausspruch bei Totenfeiern (vgl. Feldherr 2000, 210).

Neben inhaltlichen Aspekten, die Catulls Männlichkeit zur Schau stellen, lässt sich auch in der Sprache eine gewisse Maskulinität feststellen. Auf den ersten Blick wirkt sie zwar spontan und affektgesteuert, bei genauerem Hinsehen ist die Sprache jedoch alles andere als spontan. Bereits der Aufbau ist klar strukturiert, inhaltlich symmetrisch aufgebaut und lässt daher kaum Zweifel an einer bewussten Ausgestaltung: Ankunft (v. 1) – Totengabe (v. 2–4) – emotionaler Höhepunkt (v. 5–6) – Totengabe (v. 7–9) – Abschied (v. 10) (vgl. Gelzer 1992, 28). Auch stilistische Feinheiten kommen in einer Häufigkeit und Präzision vor, dass Affekt und Zufall als Ursachen ausgeschlossen werden können. Dazu zählen mehrere Hyperbata, Alliterationen, Pleonasmen, abbildenden Wortstellungen, Besonderheiten der Vokalklänge etc. Exemplarisch kann auf die Wiederholung des m-Lautes verwiesen werden: Insgesamt beginnen und/oder enden zwanzig Wörter innerhalb von nur zehn Versen mit diesem Konsonanten. Die Repetition des stummen m-Lauts verleiht dem Gedicht eine Schwere, die Catulls Emotionen zusätzlich greifbar macht und die Leser:innen an das Wort mors und somit an den Tod des Bruders erinnert (vgl. Howe 1974, 276). Insgesamt ergibt sich so eine enorme sprachliche Kontrolle, die durch die Tatsache, dass sie nach außen hin spontan und eben nicht kontrolliert wirkt, nur umso mehr verstärkt wird. Im Gegensatz zu emotionaler, weiblicher Trauer zeigt Catull hier ein hohes Maß an männlicher Beherrschung trotz des Verlustes seines Bruders.

Die männlichen Aspekte der Trauer werden somit vor allem in den äußeren Umständen ersichtlich wie der Anspielung an Odysseus, der Verwendung von Begräbnisriten, der Erfüllung von Pflichten durch die Totengabe und der sprachlichen Kontrolle.

Weibliche Trauer

Auf der anderen Seite steht die weibliche Trauer. Auch diese lässt sich ohne Weiteres in carm. 101 finden. Zwar weist die Sprache Catulls männliche Züge auf, doch die sprachliche Kontrolle wird letztlich dafür verwendet, die Emotionen des lyrischen Ichs zu verstärken und so die innere, weibliche Trauer hervorzuheben. Inhaltlich ist das Gedicht, abgesehen von den oben genannten männlichen Aspekten, durchzogen von Gefühlen. Die Aufmerksamkeit liegt einzig und allein auf dem Toten. Dieser intensive Fokus, der in dieser Weise in keinem anderen Gedicht Catulls so zum Tragen kommt, ist das Hauptmerkmal femininen Trauerns (vgl. Seider 2016, 289). Von Trauernden wird im alten Rom erwartet, dass sie ihre Geschäfte für die Zeit des Trauerns niederlegen und nicht am gesellschaftlichen Leben teilhaben (Feldherr 2000, 211–212). Während für Männer jedoch schnell wieder ‚business as usual‘ gilt, ist die Trauer der Frauen anhaltender (Seider 2016, 284). In seinem über das gesamte Gedicht anhaltenden Fokus auf den Bruder weist carm. 101 allein schon durch seine Thematik der Trauer und Gefühlsverarbeitung feminine Züge auf. Diese Gesamtkonzeption wird durch die Emotionalität nur umso mehr verstärkt. Ganz offen zeigt das lyrische Ich seine Gefühle über Ausrufe wie ‚Ach armer Bruder, der du mir unverdient weggenommen worden bist!‘ (heu miser indigne frater adempte mihi: v. 6), über Wörter wie ‚traurig‘ (tristi: v. 8), vor allem aber durch seine Tränen (v. 9) – dieser eher weiblich konnotierte Klagegestus zieht an dieser Stelle ungewohnt viel Aufmerksam auf sich.

Während diese Züge recht offensichtlich sind und auch Gelegenheitsleser:innen direkt ins Auge springen, beinhaltet das Gedicht jedoch auch feminine Tendenzen, die erst nach genauerer Analyse auffallen und vor allem Kenntnis der anderen Gedichte Catulls voraussetzen, insbesondere der Gedichte 65, 68a und 68b. Diese handeln, sei es in einer kurzen Passage oder über das gesamte Gedicht hinweg, ebenfalls vom Tod des Bruders. Allein dadurch besteht bereits ein Zusammenhang zwischen diesen Gedichten und carm. 101. Durch wörtliche Bezüge wie die Anrufung des Bruders oder die Anspielung auf Troja wird dieser umso stärker und bildet eine handfeste Verbindung zwischen den vier Gedichten. Bezieht man diese nun auf carm. 101, so ergeben sich noch stärkere Züge weiblicher Trauer.

Am deutlichsten wird dies an carm. 65. Während in carm. 101 noch maskuline Trauer zu finden ist, so effeminiert sich Catull in carm. 65 voll und ganz. Über das gesamte Gedicht hinweg verdeutlicht Catull eindrücklich die Intensität und die Dauer des Schmerzes: ‚doch gewiss werde ich dich immer lieben, immer Lieder singen, die voll Trauer sind wegen deines Todes‘ (At certe semper amabo, semper maesta tua carmina morte canam: v. 11–12). Mit dieser Trauer geht auch eine Vernachlässigung der sozialen Pflichten einher, denn Catull fühlt sich nicht imstande, ein von Hortalus gewünschtes Gedicht zu verfassen (v. 3), also eben gerade nicht das männliche ‚business as usual‘. Die stärkste Effeminierung des Gedichtes findet jedoch statt, indem sich Catull selbst mit anderen Frauen vergleicht, die ebenfalls einen geliebten Angehörigen verloren haben und um ihn trauern. ‚[I]ch werde immer Lieder singen, die voll Trauer sind wegen deines Todes, wie sie im dichten Schatten der Zweige sang Daulias, als sie beklagte das Los des ihr entrissenen Itylus‘ (semper maesta tua carmina morte canam, qualia sub densis ramorum concinit umbris Daulias, absumpti fata gemens Ityli: v. 12–14). Die Erwähnung von Daulia und Itylus spielt auf zwei konkrete Mythen an, in denen die Frauen (Prokne und Aëdon) jeweils ihren Sohn (Itys und Itylus) verlieren, in eine Nachtigall verwandelt werden und fortan mit dem Ruf ‚Ityn, tyn, Ityn!‘ ihr Opfer beklagen. Diese wiederholten Rufe, sei es als Wiederholung bestimmter Phrasen oder wie in carm. 101 als conclamatio mit dem Wort frater, ziehen sich durch sämtliche Gedichte Catulls über seinen Bruder. Durch den Vergleich mit diesen beiden Frauen und durch die intertextuellen Bezüge bleiben die weiblichen Konnotationen der Trauer auch in carm. 101 erhalten. Catull wird dadurch nun noch näher zur weiblichen Art des Trauerns gerückt.

Männliche oder weibliche Trauer?

Betrachtet man nun das Gedicht in seiner Gesamtheit, so weist es sowohl männliche als auch weibliche Züge der Trauer auf. Die äußere Handlung ist eindeutig männlich: Er reist zu seinem Bruder, führt dort typisch männliche Riten aus und erfüllt seine Bruderpflicht. Entsprechend ist auch der objektive Schein des Gedichtes, insbesondere der erste Satz, die sprachliche Kontrolle sowie der Aufbau, männlich geprägt. Seine Trauer hingegen ist durch den langanhaltenden Fokus auf den Bruder und den intensiven Ausdruck der Gefühle typisch weiblich. Es ergibt sich so bereits innerhalb des Gedichtes eine Ambiguität, da im Grunde nicht endgültig entschieden werden kann, ob sich Catull hier effeminiert oder nicht. Beides ist gleichermaßen möglich. Durch diese Balance entsteht eine gewisse Spannung. Der männlichen sprachlichen Kontrolle steht der gefühlsstarke weibliche Inhalt gegenüber und dem linearen und chronologischen Aufbau der symmetrische. Auf die gleiche Weise lassen sich auch die männlichen und weiblichen Züge gegenüberstellen und in eine Balance bringen. Liegt auf der einen Seite der Fokus ausschließlich auf dem Toten, geht das lyrische Ich auf der anderen Seite seinen gesellschaftlichen Pflichten gewissenhaft nach; zeigt sich Catull auf der einen Seite zwar äußerst emotional, so beherrscht er diese Gefühle auf der anderen Seite, indem er kontrolliert darüber schreiben kann und sich am Ende sogar vom Grab verabschiedet. Vergleiche, sei es innerhalb des Gedichtes mit Odysseus oder außerhalb des Gedichtes mit anderen trauernden Frauen, verstärken die Gegenüberstellung der Geschlechter und offenbaren so, was das Gedicht eigentlich ist: eine ausgeklügelte Mischung.

Mögliche Motive

Doch wozu strebt Catull diese Art von Mischung an? Zum einen stellt er das Konzept der damaligen Maskulinität infrage. Für ihn dürfen auch Männer trauern und ihre Gefühle in der Öffentlichkeit zeigen. Catull möchte somit das Verhalten, welches von Männern in Rom nach dem Tod eines Familienmitglieds erwartet wird, kritisieren. Eine starre Grenze von männlicher und weiblicher Trauer scheint für ihn keine Möglichkeit zu sein. Vielmehr weicht er das damalige starre, unvereinbare Konzepte von maskuliner und femininer Trauer auf. Zum anderen kann das Gedicht von der Leserschaft als Beispiel der Trauerbewältigung herangezogen werden. Indem Catull weder den Namen seines Bruders noch die Grabgeschenke, noch den Ort des Grabes explizit nennt (zumindest in carm. 101), formuliert er seine Aussagen für die Allgemeinheit. Das Gedicht wirkt für denjenigen, der um eine liebende Person trauert, wie eine Art Schablone, da es auf jegliche Trauerphase anwendbar ist. Catull vermittelt den Eindruck, dass jeder einzelne männliche und weibliche Trauer miteinander vermischen und auf seine individuelle Weise trauern darf. Keiner muss sich nach Catull durch irgendeine zeitliche Norm in seiner Trauer beschränken lassen. Dadurch vertritt er für die damalige Zeit eine sehr moderne Einstellung.

Literatur

Ausgaben und Übersetzungen
Bardon, Henry (1973). Catulli Veronensis Carmina. Stuttgart.
Mynors, R. A. B. (1958). C. Valerii Catulli Carmina. Oxford.
Holzberg, Niklas (2009). C. Valerius Catullus. Carmina, Gedichte (Sammlung Tusculum). Düsseldorf.

Sekundärliteratur
Feldherr, Andrew (2000). „Non inter nota sepulcra: Catullus 101 and Roman Funerary Ritual.“ In: Classical Antiquity 19(2), 209–231.
Gelzer, Thomas (1992). „Bemerkungen zu Catull Carm. 101.“ In: Museum Helveticum 49(1), 26–32.
Hope, Valerie M. (2018). „Funerary Practice in the City of Rome.“ In: C. Holleran / A. Claridge (eds.), A Companion to the City of Rome, Malden, 383–401.
Howe, Nicholas Ph. (1974). „The Terce Muse of Catullus 101.“ In: Classical Philology 69(4), 274–276.
Seider, Aaron M. (2016). „Catullan Myths: Gender, Mourning, and the Death of a Brother.“ In: Classical Antiquity 35(2), 279–314.
Stevens, Benjamin E. (2013). Silence in Catullus, Wisconsin.