Zentrale wissenschaftliche Perspektiven

Seit der Gründung der Gemeinschaft der Gläubigen in Medina zeichnet sich die jüdische und muslimische Geschichte durch enge Verknüpfungen aus, in deren Folge es zu tiefen und immer noch nicht ausreichend erforschten Wechselwirkungen in den Bereichen der Hermeneutik und Rechtswissenschaft, der Theologie, und Philosophie sowie der Bildung kam. Diese Wechselwirkungen, die Momente der Annäherung wie der Abgrenzung markieren, gilt es wissenschaftlich in gemeinsamen Anstrengungen mit ausgewiesenen Expert:innen in einer Weise zu erschließen, die auch die heutigen Diskurse über gemeinsame Grundlagen befruchten können.

Insbesondere zielt die Forschungsstelle dabei zunächst auf die

1. Erforschung der Rechtsgeschichte und des Rechtsverständnisses in der jüdischen und muslimischen Geschichte

Die JIF widmet sich in Zusammenarbeit mit Expert:innen der Erforschung des jüdischen und muslimischen Rechtsverständnisses in seiner geschichtlichen Entwicklung und legt den Fokus dabei insbesondere auf die Interdependenzen. So wird eine Grundlage geschaffen, um auch die möglichen Positionen beider Traditionen in der Begegnung mit der liberalen bzw. (post-)säkularen Moderne zu beleuchten. Sofern es eine zentrale Zielsetzung der Forschungsstelle ist, die Begegnung der jüdischen und muslimischen Rechtstraditionen mit der liberalen Gesellschaft zu reflektieren, wird dabei ein besonderer Fokus auf wissenschaftliche Fragestellungen mit einer konkreten gesellschaftlichen Relevanz gelegt, etwa durch Untersuchungen zum Ehe- und Familienrecht, zu Geschlechterrollenvorstellungen sowie zum Wirtschaftsrecht. Dabei wird es über die Frage der Parallelen und wechselseitigen Beeinflussung in inhaltlicher Hinsicht hinaus, vor allem auch um die grundlegende Frage nach dem dem Judentum und dem Islam inhärenten Verständnis der argumentationstheoretischen Ansätze und Dynamiken gehen, um auf dieser Grundlage auch die Frage nach der Möglichkeit neuer kontextueller Situierungen stellen zu können.

2. Erschließung der theologisch-philosophischen Entwicklung und wechselseitigen Beeinflussung

Die theologisch-philosophischen Entwicklungen seit der intensiven jüdisch-muslimischen Begegnung im Mittelalter verlangen im Blick auf die Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Gegenwart nach einer intensiven Beleuchtung. In dieser Hinsicht wären historische Untersuchungen der wechselseitigen Beeinflussung und teilweise der Abhängigkeit der jüdischen Philosophie und Theologie von der islamischen ein wichtiger Ausgangspunkt, um an die innere Verbindung beider Traditionen zu erinnern und fehlgeleiteten Oppositionen vorzubeugen. Von konkreter Relevanz wären dabei Untersuchungen darüber, wie Gottes- und Menschenbild der Traditionen sich in unterschiedlichen Konzepten von Universalismus und Partikularismus niederschlagen, sowie hinsichtlich der Möglichkeiten, von der jüdischen und muslimischen Theologie her säkulare oder eher profane gesellschaftliche Räume konzipieren zu können bzw. Konzepte von Säkularisierung oder Laizität entwickeln zu können, die nicht in einer christlichen Genealogie stehen.

3. Untersuchung der Gemeinsamkeiten und Differenzen hinsichtlich von Bildungs- und fachdidaktischen Ansätzen

Bereits in der frühen Phase des Islam können Parallelen zwischen jüdischen und muslimischen Traditionen im Bereich der Bildung nachgewiesen werden, die auf gemeinsamen philosophisch-theologischen Prämissen basieren. In der Zeit des frühen Mittelalters und der Neuzeit können Ähnlichkeiten zwischen muslimischen und jüdischen Bildungszielen und -methoden, aber auch in der Bildungsphilosophie besonders an Schriften von Gelehrten wie Al-Ghazālī (gest. 1111) und Maimonides (gest. 1204) verdeutlicht werden. Allerdings haben politische Ereignisse zum Zusammenbruch und Verfall der jüdischen und muslimischen Bildungskulturen geführt. Diese politischen Entwicklungen hatten ebenfalls einen schleichenden Antisemitismus in Teilen muslimischer Gemeinschaften zur Folge, der auch hier in Deutschland sichtbar wird. Umgekehrt haben sich die Fronten auch auf jüdischer Seite verhärtet. Gerade im deutschen und europäischen Kontext kann Bildung helfen, diese politisch gewachsenen Hürden zu überwinden mit dem Ziel von Respekt und wechselseitiger Wertschätzung und einem friedlichen Zusammenleben. Im Rahmen der Arbeit der Forschungsstelle sollen vor dem Hintergrund der historischen Parallelen Möglichkeiten der Kooperation und Synergien zwischen jüdischen und muslimischen Bildungsansätzen in pluralen Kontexten wieder belebt werden, um Bildungsangebote zu konzipieren, die interreligiöse und weltanschauliche Aspekte und den Umgang mit herausfordernden Themen in den Mittelpunkt stellen.

4. Entwicklung eines Doktorand:innenprogramms

Der Aufbau eines Doktorand:innenprogramms, in dem insbesondere, aber nicht ausschließlich jüdische und muslimische Nachwuchswissenschaftler:innen zu Themenbereichen, in denen jüdisch-muslimische Interdependenzen von zentraler Bedeutung sind, forschen können, ist ein wichtiges Anliegen der JIF. Verbunden mit der Entwicklung gemeinsamer Projekte und Lehrveranstaltungen soll ein jüdisch-muslimischer Diskurs etabliert werden, der durch die Vielfalt der Perspektiven in einem Differenzen anerkennenden Austausch neue Horizonte erschließen kann. Durch die Entwicklung eines solchen Doktorand:innenprogramms könnten trotz des Fehlens einer entsprechenden institutionellen Verankerung etwa in Form einer Fakultät oder eines Instituts für Jüdische Theologie verstärkt auch jüdische Nachwuchswissenschaftler:innen in der Universität Tübingen integriert werden. Über die Zusammenarbeit mit anderen Fakultäten und Instituten der Universität soll dieser jüdisch-muslimische Diskurs in den weiteren Zusammenhang des Campus der Theologien einfließen, so dass dieser ein vielstimmiges, argumentatives Netz entfalten kann, in dem neben katholischen, evangelischen und muslimischen auch jüdische Stimmen ihre wissenschaftlichen und bildungstheoretischen Perspektiven einbringen können.