Sammlungen von Aussprüchen berühmter Persönlichkeiten waren in der gesamten Antike beliebt und weit verbreitet. Eine eigene Sammlung von Jesusworten war jedoch lange Zeit unbekannt. Erst 1835 hat Karl Lachmann eine solche Sammlung als Quelle der synoptischen Evangelien postuliert, und inzwischen ist es weitgehend gelungen, diese sogenannte Logienquelle Q aus dem gemeinsamen Redematerial des Matthäus- und des Lukasevangeliums zu rekonstruieren. Außerdem wurde mit dem Fund des koptischen Thomasevangeliums 1945 im ägyptischen Nag Hammadi erstmals eine jesuanische Spruchsammlung nahezu unversehrt wiederentdeckt.
Seither ist allerdings die Frage nach den angemessenen Kriterien für eine triftige Interpretation dieser Texte ein ungelöstes Problem. Die Gattung der Textsammlung bringt es mit sich, dass darin ganz unterschiedliches Material mehr oder weniger lose aneinandergereiht erscheint. Da ein erzählerischer oder argumentativer Zusammenhang weitestgehend fehlt, versagen auch die bewährten Methoden der narrativen bzw. diskursiven Textanalyse. Die Logienquelle lässt immerhin noch den biographischen Aufriss des Lebens Jesu erkennen, auch wenn sie dieses nicht erzählt. Dagegen hat sich das Thomasevangelium bisher allen Versuchen widersetzt, durchgreifende Kompositionsprinzipien im gesammelten Spruchgut dingfest zu machen.
Hier setzt die geplante Untersuchung an, indem sie den methodischen Zugriff auf die Texte zugleich differenziert und ausweitet. Gingen die bisherigen Kompositionsanalysen der fraglichen Texte von einer einheitlichen Textüberlieferung aus, werden jetzt die einzelnen Textzeugen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen und für die Überlieferungsgeschichte der einzelnen Sprüche ausgewertet. Gleichzeitig wird die Überlieferung der Worte Jesu im Thomasevangelium und in der Logienquelle nicht mehr isoliert betrachtet, sondern im Rahmen der allgemeinen antiken Spruchsammlungspraxis, die ihren eigenen, allerdings noch kaum erforschten Gesetzmäßigkeiten folgt.
Diese Gesetzmäßigkeiten anhand ausgewählter Textcorpora möglichst präzise zu erheben und anschließend bei der Kompositionsanalyse auf die Logienquelle und das Thomasevangelium anzuwenden, sind die beiden Hauptziele des Forschungsprojekts. Dazu werden solche Spruchsammlungen aus der Antike herangezogen, die uns in der handschriftlichen Überlieferung in signifikant unterschiedlichen Formen vorliegen. Dies ist bei den Pseudo-Phokylides, Sextus bzw. Epikur zugeschriebenen Spruchsammlungen jeweils der Fall. Zugleich hat diese Auswahl den Vorteil, dass sie mit Pseudo-Phokylides eine jüdische, mit Sextus eine christliche und mit Epikur eine pagane Spruchsammlung aus hellenistisch-römischer Zeit berücksichtigt.