Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2010: Forschung
Wer entscheidet über Bildung?
Interdisziplinäre Studie zu Bildungsverläufen von Jugendlichen in Europa
Wie kommen Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen in Europa zustande, welche Faktoren und Personen beeinflussen sie? In dem internationalen Forschungsprojekt „Governance of Educational Trajectories in Europe“ (GOETE) werden diese Fragen untersucht. Koordiniert wird das interdisziplinäre Projekt am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Tübingen.
Bildung und Bildungspolitik erfahren gegenwärtig in öffentlichen und politischen Diskussionen große Aufmerksamkeit. Schulische Bildungsprozesse und insbesondere die Übergänge zwischen Schularten und Klassenstufen sind nicht zuletzt durch internationale Studien zum Schulleistungsvergleich, beispielsweise die PISA-Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und die regelmäßige Bildungsberichterstattung in den Blickpunkt gerückt worden. Das von der der Europäischen Union (EU) ausgesprochene Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen, verstärkt die Bedeutung schulischer Bildungsprozesse – auch wenn GOETE-Projektkoordinator Dr. Andreas Walther den Zusammenhang zwischen schulischen und außerschulischen Bildungsprozessen betont: "Grundsätzlich gehören zum lebenslangen Lernprozess des Menschen drei Bildungskontexte: die formale Bildung in der Schule oder Universität, die non-formale Bildung – beispielsweise in Jugendgruppen – und die informelle Bildung in der Familie oder im Freundeskreis."
Aktuelle Probleme der Schulbildung ergeben sich unter anderem in folgenden Bereichen:
- Konstant hohe Quoten von Schulabbrechern sowie die großen Unterschiede der Schüler im Erwerb von Basiskompetenzen wie Lesen und Rechnen werfen Fragen nach der Effektivität von Schulbildung auf
- Steigende Schülerzahlen im privaten Bildungssektor und steigende Ausgaben für zusätzlichen Nachhilfeunterricht verweisen auf die Unzufriedenheit mit dem öffentlichen Bildungssystem
- Die Diskrepanz zwischen den im Schulsystem erworbenen Qualifikationen und den Anforderungen des Arbeitsmarktes kommen in hohen Arbeitslosenquoten – vor allem unter Berufsanfängern – zum Ausdruck
- Lehrkräfte fühlen sich durch die sozialen Herausforderungen im Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern überfordert. Damit werden Probleme wie Verarmung, Gewalt und Mobbing, gesundheitliche Probleme und riskante Lebens- und Verhaltensweisen zu einer Herausforderung für die Schule
Vor dem Hintergrund dieser europaweit zu beobachtenden Probleme werden im GOETE-Projekt die Bildungsverläufe von Kindern und Jugendlichen vom Übergang aus dem Primar- in den Sekundärbereich bis zum Übergang in weiterführende allgemeine oder berufliche Bildungsgänge untersucht, also die der Gruppe der 10- bis 16-Jährigen.
Im GOETE-Projekt soll beleuchtet werden, wie Bildungsverläufe politisch reguliert werden: welche Voraussetzungen werden bildungspolitisch geschaffen, um den Zugang zu Bildung insbesondere für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu gewährleisten. Außerdem soll die subjektive Bewältigung von Bildungsverläufen und -übergängen und die Verfügbarkeit von Unterstützung in und außerhalb der Schule erforscht werden, also auch das Verhältnis Schule, Jugendhilfe und Familie. Andreas Walther hierzu: "In Europa sind die Unterstützungsangebote in der Schule sehr unterschiedlich, in Finnland beispielsweise sind multiprofessionelle Teams an allen Schulen Standard. In Dänemark erstellen Berufsschulen gemeinsam mit lokalen Unternehmen individuelle Ausbildungsprofile für die Schüler." Drittens wird im GOETE-Projekt gefragt, welche Bedeutung und welchen Gebrauchswert die verschiedenen Akteure und Beteiligten Bildung zuschreiben. Und wie ausgehandelt wird, welche Bildung in modernen Wissensgesellschaften notwendig ist. Dafür sollen im Projekt qualitative und quantitative Methoden der Datenerhebung und -analyse angewandt werden: Fragebogenerhebungen mit Schülern, Eltern und Schulleitern, Fallstudien an Schulen, Experteninterviews mit bildungspolitischen Schlüsselakteuren sowie ein Vergleich der Lehrerausbildung.
GOETE zielt auf zuverlässige Aussagen darüber, wie die Zugänge von Kindern und Jugendlichen zu Bildung erweitert und wie diese bei der Bewältigung der Anforderungen von Bildung besser unterstützt werden können. Um dazu beizutragen, die Bedeutung von Bildung für individuelle Bildungsbiografien sicher zu stellen, ist außerdem die Verbesserung der Kommunikation und Kooperation von Schulen, Schülern, Eltern, Betrieben und anderen relevanten Bildungsakteuren ein zentrales Anliegen der Studie.
GOETE vernetzt Forscherinnen und Forscher aus dreizehn Partnerinstitutionen und aus mehreren Fachdisziplinen – Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft und Psychologie – in Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Polen und Slowenien. Das im Januar gestartete Projekt wird bei einer Laufzeit von drei Jahren bis 2012 im Rahmen des siebten Rahmenforschungsprogramms der EU mit über 2,7 Millionen Euro gefördert.
John Litau
Kontakt:
Eberhard Karls UniversitätTübingen
Institut für Erziehungswissenschaft
PD Dr. Andreas Walther
Münzgasse 11
72072 Tübingen
Tel: 07071/2976968
E-Mail: coordinationspam prevention@goete.eu
Projekthomepage: www.goete.eu