Am 5. Mai ist Professor Dr. Johannes Neumann nach längerer schwerer Krankheit in Oberkirch/Baden verstorben. Er war Professor am Institut für Soziologie der Universität Tübingen mit den Arbeitsschwerpunkten Rechts- und Religionssoziologie sowie Sozialpolitik und wohlfahrtsstaatliche Institutionen. Sein beruflicher Weg führte ihn aber nicht direkt zur Soziologie.
Geboren 1929 in Königsberg, studierte Neumann zunächst katholische Theologie, neben Philosophie, Geschichte und Soziologie in München und Freiburg und wurde Professor für Kirchenrecht an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Er war Dekan der Fakultät und zwischen 1971 und 1972 auch Rektor der Universität. Schon damals wuchsen freilich seine Zweifel an seiner geistlichen Berufung und am katholischen Glauben überhaupt, über die er offen mit den Studierenden diskutierte. Dadurch entstanden Konflikte mit den Fakultätskollegen, insbesondere mit seinem damaligen Tübinger Kollegen Joseph Ratzinger, der ihn einmal, wie Neumann in einem Interview erzählte, als „Wolf im Schafspelz“ bezeichnete. Es war eine nur halb scherzhaft gemeinte Anspielung darauf, dass Neumann damals im Winter gern einen Ledermantel mit einem Schafspelz trug. Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu. Schließlich gab Neumann seinen Lehrauftrag zurück und verließ 1977 die Fakultät. Es kam zum Bruch mit der katholischen Kirche, auch weil er nicht bereit war, das Zölibat zu respektieren und seine frühere Assistentin heiratete.
Für seine berufliche Neuorientierung wählte er das Fach Soziologie und wurde Mitglied des Soziologischen Seminars in Tübingen. Soziologie bedeutete für ihn die Hinwendung zu den drängenden Problemen der sozialen Wirklichkeit. Hier hat Johannes Neumann eine langjährige, produktive und erfolgreiche Tätigkeit in Lehre und Forschung entfaltet. In der Lehre konzentrierte er sich auf Sozialstruktur und Sozialpolitik und trug diese zentralen Inhalte des Grund- und Hauptstudiums maßgeblich; weitere Gegenstände waren Religionssoziologie und moderne Religionskritik. Ungeachtet seines Insistierens auf strengen akademischen Qualitätsmaßstäben war er unter den Studierenden sehr beliebt und einer der gefragtesten Prüfer. Durch seine freundliche, offene Art und seinen unverbrüchlichen Optimismus – einmal pflanzte er ein Apfelbäumchen hinter dem Hegelbau – half er dem Institut für Soziologie auch über schwierige Zeiten hinweg. Bedeutend war auch sein Beitrag zur Forschung. Unter seiner Ägide wurden zwei an die Universität angegliederte Forschungseinrichtungen gegründet – das Forschungsinstitut für Arbeit, Technik und Kultur e.V. (F.A.T.K.) und das Zentrum zur interdisziplinären Erforschung der Lebenswelten behinderter Menschen (Z.I.E.L.) –, die bis heute existieren und sich durch ihre erfolgreiche, fast ausschließlich durch Drittmittel finanzierte Arbeit in der Fachwelt einen guten Ruf erworben haben. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1995 blieb Johannes Neumann in der Forschung aktiv, wandte sich aber noch stärker dem politischen Engagement für Menschenrechte, Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu, das ihm immer am Herzen lag. Er war Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender der Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Mitglied des Beirates des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) sowie des Beirats der religionskritischen Giordano Bruno-Stiftung. Im Jahr 2000 wurde er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ursula mit dem Erwin-Fischer-Preis der IBKA ausgezeichnet.
Mit Johannes Neumann verlieren die Universität Tübingen und das Institut für Soziologie einen fachlich hoch anerkannten und persönlich geschätzten Kollegen. Die Universität Tübingen, die Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und das Institut werden ihn in ehrender Erinnerung behalten.