Wissenschaftler der Universität Tübingen haben im Osten Frankreichs zwei Höhlen mit prähistorischer Wandkunst entdeckt. Die Gravierungen und Malereien entstanden vor mindestens 12.000 Jahren, frühe moderne Menschen stellten hier unter anderem die Silhouette eines Pferdes und eines hirschartigen Tieres dar. Professor Harald Floss von der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie und seine Arbeitsgruppe konnten das Alter gemeinsam mit spanischen Kollegen und dank ausgeklügelter Methoden nachweisen. Die Tübinger Wissenschaftler erforschen seit mehr als zwanzig Jahren die Altsteinzeit (Paläolithikum) im Osten Frankreichs, insbesondere in der südlichen Bourgogne ‒ eine Region, in der sich Neandertaler und moderne Menschen vermutlich tatsächlich begegneten.
Die Höhlen liegen in der Gemeinde Rully im Départment Saône-et-Loire. „Weil die Dichte paläolithischer Fundstellen hier besonders hoch ist, vermuteten die Forscher schon eine Weile eine Bilderhöhle (franz. grotte ornée) in der Region“, erklärt Archäologe Floss. Erstmals in 150 Jahren Urgeschichtsforschung in dieser Region sei nun der Nachweis gelungen, dass die frühen modernen Menschen sich in den dortigen Höhlen zu Eiszeitkunst inspirieren ließen. In den „Grottes d’Agneux“ hinterließen sie mit Steinwerkzeugen und in Form von Malerei Darstellungen von Tieren, darunter ein Pferd und sogenannte Cerviden, hirschartige Tiere.
Gemeinsam mit dem Archäologen Juan Ruiz von der Universität Cuenca in Spanien, einem Spezialisten für prähistorische Wandkunst, analysierte das Team die Felswände mit modernen Messtechniken. Weil die Darstellungen durch jüngere Graffiti aus dem 16. bis 19. Jahrhundert überdeckt waren, benutzte es zudem spezielle bildbearbeitende Computerprogramme, um die ursprünglichen Werke unter den Schichten zu rekonstruieren. Außerdem wurden in einer photogrammetrischen Dokumentation viele Einzelfotos der Werke im Computer zusammengesetzt, um einen „plastischen“ Eindruck zu erhalten.
Mithilfe der Radiokohlenstoffmethode konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Holzkohlen aus der Höhle und damit auch die Entstehung der Bilder auf das Jungpaläolithikum vor mindestens ca. 12.000 Jahren datieren. Bei dieser Methode wird der Zerfall des radioaktiven Kohlenstoffisotops 14C gemessen. Die Bedeutung der Höhlenkunst wurde im Sommer 2018 offiziell von den zuständigen französischen Behörden begutachtet, weitere Forschungen dazu sind geplant.
Im Département Saône-et-Loire erforschen die Tübinger Wissenschaftler die Übergangsphase von den letzten Neandertalern zu den ersten anatomisch modernen Menschen des Kontinents. Sie fanden dabei unter anderem in der Höhle Verpillière I in Germolles Hinterlassenschaften der letzten Neandertalerkultur (Châtelperronien) in Westeuropa sowie in Saint-Martin-sous-Montaigu ein umfangreiches jungpaläolithisches Jagdlager aus der Zeit vor 25.000 Jahren. Gleichzeitig konnten sie auch die erste europaweite Besiedelung des modernen Menschen in Europa (Aurignacien) in der Region nachweisen. „Die modernen Menschen orientierten sich bei ihrer Ausbreitung an Flüssen“, sagt Harald Floss. „Vermutlich wanderten sie vom Osten über die Donau und vom Süden über die Rhône nach Europa ein. Unsere Daten legen nahe, dass sich Neandertaler und moderne Menschen hier, im Osten Frankreichs, direkt begegnet sein könnten.“
Harald Floss, Andreas Pastoors (Eds.): Palaeolithic rock and cave art in Central Europe?, Verlag Marie Leidorf, Rahden, 2018.
Antje Karbe
(Pressemitteilung vom 14.11.2018)