Uni findet für die meisten Studierenden seit über einem Jahr vor allem am Bildschirm statt. Vorlesungen funktionieren mittlerweile gut via Stream oder Download. Für Gruppenarbeiten, interaktive Seminare und Tutorien hingegen gibt es meist keinen adäquaten Ersatz.
Damit wollten sich Professorin Carolin Huhn und Professor Marcus Scheele vom Institut für Physikalische und Theoretische Chemie nicht abfinden. Statt nur digitalisierte Inhalte online anzubieten, haben sie ein Konzept entwickelt, wie sie ihren Studierenden ein echtes Lernerlebnis im digitalen Raum bieten können. Seit diesem Sommersemester unterrichten sie ca. 300 Studierende der Physikalischen Chemie im Haupt- und Nebenfach mit Hilfe von Gather.town. Diese Videokonferenz-App eröffnet virtuelle Räume, in denen Kleingruppen zusammenarbeiten und sich aktiv mit dem Lehrstoff auseinandersetzen können.
„Wir wollen eine wirkliche digitale Lehre anbieten und gemeinsam mit den Studierenden arbeiten. Das schaffen Sie nicht, wenn Sie nur Videokonferenzen haben", unterstreicht Huhn.
Im Gegensatz zu Tools wie Zoom und anderen gängigen Meeting-Programmen bewegt man sich in der Gather.town-Welt selbstbestimmt in einer virtuellen Umgebung. Man kann dort auch spontan mit anderen in Kontakt treten. Wer sich erstmals einloggt, fühlt sich an ältere Versionen von Computerspielen wie Sims oder Second Life erinnert. In einer 2-D-Umgebung steuert man seinen Avatar per Pfeiltasten über einen virtuellen Campus. Hier kann man Seminarräume betreten, sich gemeinsam mit anderen an Tischen niederlassen und an digitalen Whiteboards ("Miro-Boards") Aufgaben bearbeiten. Begegnet man anderen Avataren, öffnen sich Videochat-Fenster und man kann mit den Mitstudierenden oder Dozierenden von Angesicht zu Angesicht sprechen.
Eine Lerneinheit in Gather.town läuft so ab: Die Studierenden setzen sich mit ihren Avataren in Kleingruppen an digitale Tische zu Videokonferenzen. Gemeinsam bearbeiten sie am Miro-Board vorab gestellte Aufgaben. Carolin Huhn und Marcus Scheele gehen von Tisch zu Tisch und stehen bei Fragen zur Verfügung. Anschließend finden sich alle in einem virtuellen Seminarraum zusammen und besprechen die Aufgaben im Plenum. „Es entstehen dynamische Arbeitsprozesse“, betont Huhn. „Ich kann sehen, wie die Gruppen zusammenarbeiten und was auf den einzelnen Boards entsteht. Ich kann jederzeit dazukommen und Anregungen geben.“ Auch spätabends sind noch Studierende in Gather.town unterwegs, die selbstständig Aufgaben bearbeiten. „Ich schaue die Boards dann nach und nach durch, kommentiere und korrigiere die Lösungen.“
„Wir haben schnell gemerkt, dass es die Studierenden schätzen, hier miteinander in Kontakt zu kommen“, sagt Professor Scheele. „Manche schalten sich früher als nötig zusammen – und besprechen dann nicht nur Uni-Dinge.“ Man sucht sich den Sitznachbarn oder die Nachbarin, es bilden sich Gruppen, manche sind eher alleine unterwegs. Eben wie im realen Uni-Alltag. „Es ist praktisch, dass es ein offener Raum ist, in den man jederzeit reingehen und etwas bearbeiten kann“, findet etwa Selina Schwab, Studentin im zweiten Semester. „Man kann alleine arbeiten, aber auch andere treffen, und man kommt eher ins Gespräch mit Leuten, mit denen man sonst nichts zu tun hat. Bei einem Zoom-Meeting dagegen macht man einen bestimmten Zeitpunkt aus und trifft sich gezielt." Das gemeinsame Lernen mit anderen sei auch einfacher als zum Beispiel in Zoom, ergänzt ihre Kommilitonin Annabell Rickert. „Man kann gemeinsam das Whiteboard benutzen, kann den Bildschirm teilen, Dinge austauschen und parallel am selben Dokument arbeiten.“
Etwa zwei Drittel der Studierenden nehmen regelmäßig an den Gather.town-Treffen teil. Huhn und Scheele sehen in der Plattform großes Potenzial, auch nach Corona. Etwa, weil die Studierenden zeitunabhängig und dauerhaft auf Lerninhalte zugreifen können. „Auch wenn wieder Präsenzveranstaltungen stattfinden, bietet uns Gather.town Flexibilität“, sagt Scheele. „Vieles kann man hybrid anbieten. Ich kann mir gut vorstellen, im echten Seminarraum zu sein und gleichzeitig über ein Miro-Board digital mit den Leuten die Aufgaben zu bearbeiten, die nicht vor Ort sind.“ Als nächster Schritt soll Gather.town für den Praktikumsbereich, ergänzend zur Arbeit im Labor, angeboten werden. „Das praktische Experimentieren, dass es knallt und stinkt, können und wollen wir nicht ersetzen“, betont Scheele. „Aber man kann zur Vor- und Nachbereitung der praktischen Versuche digital sehr schön Material zur Verfügung stellen, das die Studierenden dann interaktiv bearbeiten.“
Christoph Karcher