Universitätsbibliothek

Das Schattenbild

Heutzutage macht sich kaum jemand mehr Gedanken darüber, wie man an das Bild einer anderen Person oder an ein „Selfie“ kommen kann. Mit dem Smartphone geschieht das in wenigen Sekunden. So einfach war es nicht immer, aber der Wunsch danach war vor über 200 Jahren auch schon da. Ein teures Gemälde oder einen Kupferstich konnte sich nicht jeder leisten oder gar selbst anfertigen. Das im Vergleich dazu einfache und günstigere Schattenbild, auch Schattenriss oder international „Silhouette“ genannt, ist eine detailnahe Umrisszeichnung eines Profils. Den Schatten warf in der Regel eine Kerze auf ein Blatt Papier, worauf die Kontur des Schattens nachgezeichnet und dieser Umriss mit schwarzer Tusche ausgefüllt wurde. Vorläufer finden sich bereits unter den Höhlenmalereien, auf antiken Vasen und bei den Schattenspielfiguren aus dem Orient.

Nach dieser Vorläuferzeit gab es weder im Mittelalter noch in der Renaissance Spuren der Schattenkunst. In der Literatur heißt es, dass das „Spiel der echten Schatten“ Mitte des 17. Jahrhunderts aus dem Orient nach Italien kam. Die Welle schwappte mit der Zeit nach England und Frankreich über und von dort nach Deutschland, wo die schwarzen Portraitsilhouetten ab den 1750er Jahren für etwa 100 Jahre groß in Mode waren. Oft wird im selben Atemzug der Scherenschnitt genannt, der aber ohne Schatten auskam. Bei dieser Ausschneidekunst schnitt man Profilsilhouetten oder ganze Genreszenen mit der Schere direkt ins schwarze Papier.

Die Schattenbilder konnten auch von Laien angefertigt werden. Da es aber auf jeden Millimeter ankam und nicht jedermann gleich begabt war, entstand bald der Beruf des Schatten- oder Silhouettierkünstlers. Um 1775 wurde sogar ein Silhouettierstuhl erfunden, an dem der Kopf für eine exakte Konturlinie fixiert werden konnte. Das Blatt mit dem entstandenen Profilumriss war groß - zu groß für die Hosentasche oder das Poesiealbum, zum Sammeln, Tauschen und auch zu groß für die Bücher über die menschliche Physiognomie, in denen die Bildchen verschiedene Gesichtstypen und davon abgeleitete Charaktereigenschaften aufzeigen sollten.

Das Verkleinerungsgerät gab es schon. Christoph Scheiner (1573-1650) hatte den Pantografen, den „Allesschreiber“, für die Verkleinerung oder Vergrößerung von Karten und Plänen bereits im Jahr 1603 erfunden. Dieser sogenannte Storchenschnabel wurde bei der Schattenkunst für die Verkleinerung des Bildes verwendet und sollte unbedingt qualitativ hochwertig sein. Jede falsch gezogene Linie würde das Profil sonst verfälschen. Dennoch entstand eine so große Nachfrage nach diesem Gerät, dass sogar Bauanleitungen geschrieben wurden, wie zum Beispiel die „Beschreibung eines sehr einfachen zur Verjüngung der Schattenrisse dienenden Storchschnabels, den sich jeder Liebhaber selbst verfertigen kann…“ aus dem Jahr 1780. Der Autor bezeichnete das Silhouettieren als „Allgemeine Lieblingsbeschäftigung unserer Zeiten“.

Besonders beliebt war die Silhouette unter Studenten, wo ab 1800 Brustbilder geradezu boomten, auf denen Uniform und Mütze teilweise farbig ausgemalt wurden.

Die Silhouette wurde unter den Studenten gerne als Ergänzung ins Stammbuch gemalt (heute: Poesiealbum / Freundebuch), beispielsweise in das des Tübinger Theologiestudenten Johann Christian Mayer. Viele Einträge in Mayer’s Stammbuch enthalten Abschiedsgrüße seiner Kommilitonen zum Ende des Studiums.

Namensgeber für die Bezeichnung „Silhouette“ war Étienne de Silhouette. Er lebte von 1709-1767 und war für fast 9 Monate französischer Finanzminister im Jahr 1759. Étienne de Silhouette war nebenher nicht etwa ein Top-Künstler sondern ein Sparfuchs. Statt teurer Gemälde oder Kupferstiche schmückte er sein „Schlösschen“ in übergroßer Zahl mit den billigeren Scherenschnitten und Schattenrissen. Bald wurde alles, was eingespart werden könnte oder günstiger zu bekommen war, vom Volk als „à la Silhouette“ bezeichnet. Sein Sparplan, der auch den Adel traf, kostete ihn den Job. Das Ende der Silhouette kam Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung der Fotografie.

Außer in Stammbüchern befinden sich im Bestand der Universitätsbibliothek über 20 lose Silhouetten. Das Universitätsarchiv besitzt aus dem Nachlass des Studentenhistorikers Georg Schmidgall (1867-1953) über 500 dieser Schattenbilder von Studenten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Digitalisate davon gibt es online in unserer Bilddatenbank: TOBIAS-bild (uni-tuebingen.de).
Zu den Stammbüchern online: Stammbücher - OpenDigi (uni-tuebingen.de).

Literatur:

Biesalski, Ernst: Scherenschnitt und Schattenrisse. München, 1964.
UB-Signatur: 4 B 647

Buss, Georg: Aus der Blütezeit der Silhouette. Leipzig, 1913.
UB-Signatur: Dd 877

Döhren, Jakob von: Beschreibung eines sehr einfachen zur Verjüngung der Schattenrisse dienenden Storchschnabels, den sich jeder Liebhaber selbst verfertigen kann. Münster u. Hamm, 1780.
UB-Signatur: Dd 149

Goebel, Manfred: Der Pantograph in historischen Veröffentlichungen des 17. bis 19. Jahrhunderts. Halle (Saale), 2003.
UB-Signatur: 15 E 3117

Hellwag, C. F.: Beschreibung und Gebrauch des Storchschnabels. [S.l.], 1776.
UB-Signatur: El 84.4

Jacob, Georg: Die Herkunft der Silhouettenkunst (ojmadschylyk) aus Persien. Berlin, 1913.
UB-Signatur: Dd 401

Der Königl. Schwedischen Akademie der Wissenschaften neue Abhandlungen aus der Naturlehre, Haushaltungskunst und Mechanik, Band 29, S. 181. Leipzig, 1770.
UB Signatur: Kc 92-29/30.1770/1771

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Band 2. Leipzig, 1776.
UB-Signatur: Ae 1.4-2

Machines et inventions approuvées par l'Académie Royale des Sciences depuis son établissement jusqu'à present, Band 7.1734/54. Tafel No. 460. Paris, 1777.
UB-Signatur: Kc 72.4-7.1734/54
 

Die vier Porträts:

 

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