Die politische Konstruktion von traumatischen Erinnerungen
Wie erinnern wir nach der Ausgangsbeschränkung und den Kontaktbeschränkungen an die Auswirkungen des Shutdowns?
von Cora Bieß
14.05.2020 · In der aktuellen Lage des Lock Downs ist der Umgang mit den Auswirkungen der Beschränkungen, sowohl in privaten Gesprächen als auch in den Medien omnipräsent. Doch welche Erinnerungen dieser Zeit bleiben uns nach der Krise, und welchen Einfluss werden diese Erinnerungen auf unser zukünftiges Leben haben? Erleben Teile der Gesellschaft gerade durch diese Ausnahmesituation ein potentielles kollektives Trauma, das wir über Jahre erinnern und verarbeiten müssen?
Wie Erinnerungen entstehen, soll hier als eine theoretische Grundlage eingeführt werden, um davon ausgehend näher auf den Ansatz der Traumapolitik einzugehen. Dieser Artikel geht primär nicht auf einzelne, individuelle Traumata ein, sondern versucht aufzuzeigen, wie in einem kulturwissenschaftlichen Verständnis kollektive Erinnerungen entstehen und welche Dynamiken ihnen zugrunde liegen.
Der Prozess des Erinnerns bedeutet im Allgemeinen etwas, im Gedächtnis bewahrt zu haben und sich dessen wieder bewusst zu werden. Nach dem Konzept der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung von Halbwachs und Assmann ist Erinnerung nicht als eine Dokumentation vergangener Ereignisse zu verstehen, sondern als eingeprägte Interpretationen bestimmter Ereignisse. Narration verbalisiert Erinnerungen, welche stark kulturell geprägt sind. Erzählstruktur und Zeiterleben können demnach in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich wahrgenommen werden. Das Gedächtnis ist kein Speicher der Erinnerung, sondern wir werden vor allem durch soziale Beziehungen fähig, uns zu erinnern. Erinnern und Vergessen sind grundlegende soziale Phänomene, die sich auf die kollektive wie individuelle Existenz beziehen und eine dialektische Beziehung aufzeigen. Jedes individuelle Gedächtnis bildet sich durch Kommunikation und in Kommunikation mit anderen heraus. Eine Wahrnehmung ist demnach nicht objektiv, sondern subjektiv geprägt, was zur Folge hat, dass unterschiedliche Wahrheiten auf die Auswirkungen durch die Covid-19 Pandemie vorzufinden sein werden. In diskursiven Prozessen wird die Schaffung von Bedeutung entweder durch Differenzierung oder durch Abgrenzung forciert. Zentral hierbei sind die Fragen, wer nach dem Shutdown in einem gesellschaftlichen Raum über die Auswirkungen durch die getroffenen Maßnahmen spricht, über wen (nicht) gesprochen wird, warum und mit welchem Effekt. Ludwik Fleck (1983, 153) beschrieb diese Wechselwirkung zwischen Individuum und Kollektiv wie folgt: „wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs“.
Individuelle Erinnerung kann auf diese Weise kollektiv geformt werden und unsere Identität wird durch eine narrative Konstruktion beeinflusst, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Kritisch zu beobachten ist daher, wer die Deutungshoheit über die Erinnerungen der Corona-Zeit haben wird und welche Gruppen und Perspektiven dadurch marginalisiert werden. Die Sicht von Jugendlichen und Kindern beispielsweise wird bislang häufig wenig in den Corona-Diskurs mit eingebracht, doch sie sind laut dem Leitartikel der Zeit1 vom 23.04.2020: „kleine Menschen, mit denen man sprechen kann, die eigene Bedürfnisse und Rechte haben“. Hauptsächlich wird zentral darüber diskutiert, wie ihre Eltern trotz Homeschooling und Kinderbetreuung effektiv im Homeoffice arbeiten können. So wird in Deutschland primär über Kinder geredet anstatt mit ihnen. Vermutlich werden ihre Erinnerungen an den Shutdown andere sein, als die von Erwachsenen.
Das kollektive Gedächtnis des Shutdowns bezeichnet also die kollektive Erinnerung unserer Gesellschaft, die sich auf spezifische Ereignisse durch Covid-19 oder Personen bezieht, die uns in der Krise präsent waren. Das mögen zu Beginn bestimmte Virolog*innen gewesen sein, die Auskunft über den Verlauf des Virus gegeben haben. Oder Ansprachen von Politiker*innen, die uns auf die aktuellen Maßnahmen und Gebote hinweisen. Aufgrund spezifischer, normativer Haltungen wird im Konfliktverlauf oft eine eigene Wahrheit bevorzugt. Diese Wissensformationen werden jedoch im Laufe der Zeit in aktuellen politischen Diskursen jeweils für bestimmte Zwecke kommunikativ und diskursiv neu gedeutet werden. Für Teile unserer Gesellschaft hat der Shutdown zu individuellen traumatischen Erinnerungen geführt. Nicht nur die hohen Todeszahlen können traumatische Erinnerungen hinterlassen, sondern mitunter auch die Angst vor den noch unbekannten sozialen, gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Folgen der Covid-19 Pandemie. Menschen in systemrelevanten Berufen sind beispielsweise extremen Herausforderungen ausgesetzt, die zu hohen psychischen Belastungen führen können. Kinder in gefährdeten Umgebungen erfahren traumatische Erlebnisse durch häusliche Gewalt, da Kindeswohlgefährdungen während dem Shutdown nur bedingt aufgedeckt werden können. Die Angst vor dem Sterben oder der Tod von Angehörigen wird durch die noch unbekannten Folgen des weiteren Virus-Verlaufs zentral. Aber auch die Angst vor einer langanhaltenden Wirtschaftsrezession und einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit führen zu einer kollektiven Unsicherheit. Folglich stürzt die Krise viele in Existenzängste, die jedoch, je nach Position in der Gesellschaft, individuell verschiedene Auswirkungen haben werden.
Daher ist es schon jetzt wichtig, sich mit traumatischen Erlebnissen der vergangenen Wochen in verschiedenen Kontexten auseinanderzusetzen.
Das Verständnis von Trauma als politische Konstruktion konzentriert sich auf kulturelle und politische Diskurse und auf die Art und Weise, wie Emotionen in Machtbeziehungen erzeugt werden. Diese Erinnerungen werden durch Kommunikation und Sprache diskursiv geformt. Die Traumapolitik kann nach Zembylas2 (2007) als Versuch definiert werden, bestimmte historische Ereignisse so darzustellen, dass diese Ereignisse im kollektiven Gedächtnis eine gewünschte Bedeutung erhalten und dementsprechend gezielt instrumentalisiert und eingesetzt werden. Das Wissen von Traumapolitik in Zeiten der Covid-19 Pandemie kann frühzeitig sensibilisieren zu reflektieren, wie an vergangene Ereignisse erinnert wird und mit welchem Ziel. Wichtig ist hierbei nicht aus den Augen zu verlieren, dass je nach Position in der Gesellschaft unterschiedliche Erinnerungen vorherrschen, die jedoch nicht alle im Diskurs kommuniziert werden. Nicht jede*r wird nach dem Shutdown traumatische Erinnerungen an die Corona Zeit haben. Daher gilt es achtsam zu analysieren: Welche Narrative werden aus der Krise hervorgehen und welche Auswirkungen und Emotionen werden diese bei den Betroffenen auslösen? Wen gilt es durch die langanhaltenden Auswirkungen des Shutdowns zu schützen und wie können marginalisierte Stimmen hier Gehör finden? Schnell etablierten sich in den letzten Wochen Narrative wie „social distancing“ oder „fahren auf Sicht“. Doch welche Narrative werden benötigt, um eine gelingende, gerechte und solidarische Transformation des Shutdowns hin zu einer Rückkehr in den Alltag zu gestalten? Wollen oder können wir denn überhaupt in den „früheren“ Alltag wieder zurück? Ergeben sich durch die Auswirkungen des Shutdowns neue vulnerable Gruppen, die nach der Kontaktbeschränkung und der Ausgangsbeschränkung besonderen Schutz benötigen, um ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten? Wer bestimmt darüber, über welche Auswirkungen des Shutdowns gesprochen wird, und wer wird dabei überhört? Ein erster Schritt wäre es, nicht zu vergessen, welche Anerkennung systemrelevanten Berufen während dem Shutdown zugesprochen wurde. Dies nicht nur als Worthülsen stehen zu lassen, sondern diese Erkenntnisse als Ansatzpunkt zu sehen, unser Gesellschaftssystem solidarisch und gerecht zu transformieren. Denn wir dürfen nicht nur den Fokus darauf legen, was wie erinnert wird, sondern haben auch Verantwortung dafür, was nicht in Vergessenheit geraten darf.
Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/177810
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1 Schoener, Johanna (23.04.2020):„Lasst sie raus!“. Die Zeit Nr. 19, Seite 1
2 Zembylas, Michalinos (2007): The politics of trauma. empathy, reconciliation and peace education. Journal of Peace Education, 4:2, 207-224, DOI: 10.1080/17400200701523603