Institute of Historical and Cultural Anthropology

50 Jahre im Feld. Das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft im Landkreis Tübingen

Das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen feiert in den Sommermonaten 50. Geburtstag, egal ob digital oder anders real. Mit einer Serie von ortsbezogenen Veranstaltungen unter dem Motto „50 Jahre im Feld“ zieht das LUI dann hinaus in den Landkreis Tübingen. Forschungen etwa zu Kleidung, Judendörfern, Arbeiterkultur, Konfessionen oder zum Dialekt unter anderem in Altingen, Baisingen, Dußlingen, Kiebingen, Mössingen oder Wolfenhausen machen das Kreisgebiet zu einem der am dichtesten kulturwissenschaftlich beforschten Räume Europas. Forschende von einst wie Prof. Wolfgang Kaschuba, Prof. Christel Köhle-Hezinger, Prof. Bernd-Jürgen Warneken, Prof. Lioba Keller-Drescher, Dr. Dieter Herz, Prof. Hubert Klausmann, Dr. Franziska Becker oder Dr. Werner Ströbele machten auch dank dieser Forschungen in Wissenschaft oder anderweitig Karriere. Ihre Forschungen von einst fanden oft international Beachtung. Sie kehren nun an einen der wichtigen Ausgangspunkte ihrer Karrieren zurück, stellen ihre damaligen Forschungsergebnisse noch einmal vor und ordnen sie in den seitherigen Gang der Forschung neu ein. Reinhard Johler, Wolfgang Sannwald und Studierende moderieren die Veranstaltungen, die das LUI in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Tübingen und der jeweiligen Kommune öffentlich durchführt.

Sie finden an Sonntagen jeweils von 15:30 Uhr bis 17:00 Uhr statt. Aktualisierungen im Hinblick auf die Pandemie-Lage sind möglich und werden hier zeitnah veröffentlicht.

16.05.    Wolfgang Kaschuba „Dörfliches Überleben – Kiebingen“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/DUdDOW_UnCA

Kiebingen – das ist ganz ohne Frage der „Klassiker“ aller seit den 1970er Jahren durchgeführten Orts-Forschungen der Empirischen Kulturwissenschaft im Landkreis Tübingen. Dessen Bedeutung geht das Ludwig-Uhland-Institut der Universität Tübingen in einer Online-Veranstaltung am Sonntag, dem 16. Mai 2021 von 15:30 bis 17:00 nach. Die kulturwissenschaftliche Kiebingen-Forschung begann mit der Fastnachtsforschung und fand ihren Höhepunkt mit Utz Jeggles Habilitationsschrift „Kiebingen. Eine Heimatgeschichte“ von 1977. Der Untertitel „Zum Prozess der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf“ weist auf intensive Forschungen zu den Menschen in Kiebingen, ihrer Geschichte, ihren Traditionen und Veränderungen in ihrem Alltag hin. Schon dass eine Heimatgeschichte jemandem den Professorentitel einbringt, ist ungewöhnlich. Der 2009 verstorbene Jeggle machte aus dem heutigen Rottenburger Teilort darüber hinaus zu einem zentralen Ort in der europaweitenForschungslandschaft. Wolfgang Kaschuba und Carola Lipp haben mit ihrem 1982 veröffentlichten Buch „Dörfliches Überleben“ an diese Forschung angeschlossen. Sie legten ihren Schwerpunkt auf die „Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. Jahrhundert“. Auch dieses Buch ist in der Forschung ausgesprochen wichtig geworden. In der Vortragsreihe „50 Jahre im Feld“ wird Professor Wolfgang Kaschuba von der Humboldt-Universität zu Berlin über „Dörfliches Überleben – Kiebingen“ sprechen. Reinhard Johler und Wolfgang Sannwald moderieren die Veranstaltung, Fragen und Beiträge des Publikums sind erwünscht.

Wolfgang Kaschuba hat ab 1968 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Empirische Kulturwissenschaft und Philosophie studiert. 1982 wurde er dort promoviert, 1987 habilitiert. Seit 1992 ist er Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2015 bis 2018 war er zudem Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Wolfgang Kaschuba lebt in Berlin.

13.06.    Lioba Keller-Drescher „Historische Kleiderforschung in Dußlingen“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/SnLkQEx5NC4

„Die Ordnung der Kleider“ – die 2003 veröffentlichte Dissertation von Lioba Keller-Drescher – behandelt die Entstehung typischer Ansichten über die ländliche Bevölkerung Württembergs. Mit überraschenden Funden aus der Kunst- und Kulturgeschichte verdeutlicht die Studie, welche Rolle der Hof, die Publizistik und die bürgerliche Kunstöffentlichkeit dabei spielten. Zugleich entfaltet sie den historischen Kleidungsbestand und die verschiedenen ländlichen Kleidungsstile am Beispiel zweier württembergischen „Trachtenorte“, Betzingen und Dußlingen. Als Quellen dienen der wegebereitenden Untersuchung über „Ländliche Mode in Württemberg 1705-1850“ kontrastierend zu Trachtengraphik und Landesbeschreibung vor allem Besitzverzeichnisse von 1750 bis 1850.

Lioba Keller-Drescher studierte von 1980-87 Empirische Kulturwissenschaft und Philosophie an der Universität Tübingen. Dort promovierte sie 2002 auch mit einem Thema zur historischen Kleidungsforschung. Nach mehreren Projektarbeiten war sie bis 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig-Uhland-Institut, wo sie sich auch mit einer Arbeit über „‚Volks-Kunde‘ – Vom Wissen zur Wissenschaft. Ressourcen und Strategien regionaler Ethnographie“ (1820-1950) habilitierte. Lioba Keller-Drescher ist seit 2019 Universitätsprofessorin für Europäische Ethnologie mit Schwerpunkt Museum, Sammlung und Materielle Kultur am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

20.06.    Werner Ströbele „Tübingen – Die Untere Stadt“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/L8FPPOs5ZX4

1977 hat die Universität Tübingen ihr 500jähriges Gründungsjubiläum begangen. Der dabei während des ganzen Jahres gefeierten Kultur der Gelehrten und der Wissenschaft hat die Tübinger Empirische Kulturwissenschaft in einer vom 17. September bis 1. November im Haspelturm gezeigten Ausstellung die Kultur der einfachen Leute – den Alltag der Unteren Stadt im 19. Jahrhundert – entgegengehalten. Damit wurde die zwischen Universität und Stadt seit Jahrhunderten bestehende „chinesische Mauer“ kritisch angesprochen, aber erstmalig auch die an der Ammer wohnenden Weingärtner, Handwerker und Arbeiter und natürlich auch deren Frauen zum Thema gemacht. Wie stark das städtische Interesse daran war, kann man an den mehr als 16.000 verkauften Exemplaren des 400seitigen, von einem Autorenkollektiv herausgegebenen Ausstellungsbuch „Das andere Tübingen. Kultur und Lebensweise der Unteren Stadt im 19. Jahrhundert“ sehen. Werner Ströbele war damals Mitglied der von Martin Scharfe geleiteten Arbeitsgruppe „Tübinger Heimatkunde“. In seinem Vortrag erzählt er vom Forschungsprojekt, aber er führt auch mit historischen Dokumenten und Fotos zu den zentralen Orten der damaligen Forschung in der Unteren Stadt.

Dr. Werner Ströbele, Jahrgang 1955, aufgewachsen in Hirrlingen, studierte von 1974 an Empirische Kulturwissenschaft, Soziologie und Geschichtliche Landeskunde in Tübingen. 1986 promovierte er bei Prof. Hermann Bausinger über die Entstehung der Lokalpublizistik am Beispiel der Tübinger Chronik. Nach einem Volontariat am Württembergischen Landesmuseum in Stuttgart begann er 1986 in Reutlingen als Leiter des Heimatmuseums und von 2004 bis Ende 2020 war er dort zudem Kulturamtsleiter. Ströbele ist auch Autor verschiedener Beiträge zur Kultur- und Landesgeschichte des Südwestens.

27.06.    Hubert Klausmann/Dieter Herz/Mirjam Nast „Mundartforschung in Remmingsheim“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/B9pcBMqjvtA

Am 27. Juni laden LUI-Direktor Reinhard Johler und Kreisarchivar Wolfgang Sannwald in der Reihe „50 Jahre im Feld“ zu einem digitalen Vortrag nach Remmingsheim ein.  Dort hat der Sprachforscher Arno Ruoff jahrzehntelang intensiv in einer Außenstelle des Instituts im Ortsteil Wolfenhausen die süddeutschen Mundarten erforscht. Er starb 80jährig im Jahr 2010.
Bereits in den 1950er Jahren begann Arno Ruoff, anfangs zusammen mit Hermann Bausinger, die Mundarten der Einheimischen wie auch der Heimatvertriebenen aufzunehmen, wobei es sich hier um freie Erzählungen handelt, die den Alltag der Menschen in ihrer Zeit zum Thema hatten. Sein Ziel war es, diejenigen sprachlichen Ebenen zu erforschen, an die die traditionelle Dialektforschung mit ihrer Methode des Abfragens von Wörtern und Sachen nicht herankam, und dies waren Satzbau und Stil. Um diese Kernthemen kreisen auch die vielen Dissertationen, die unter Ruoffs Leitung entstanden sind.
Im Laufe der Jahrzehnte nahm das Archiv immer größere Ausmaße an. Um diesen Schatz, der letztendlich auch die Kulturgeschichte unseres Bundeslandes erzählt, zu retten, unternahm der Förderverein Schwäbischer Dialekt eine große Kopieraktion, die später mit einem Digitalisierungsprogramm am Ludwig-Uhland-Institut fortgesetzt wurde. Auf diese Weise dient das Archiv heute nicht nur als Quelle für die Mundartforschung, sondern auch für die empirische Kulturwissenschaft.  

Vortragen werden Dieter Herz (Dresden), ein langjähriger Begleiter Ruoffs, Hubert Klausmann (Tübingen), der heute die von Ruoff geschaffene Arbeitsstelle am Institut betreut sowie Mirjam Nast (Tübingen), die die Digitalisierung und Auswertung der Aufnahmen betreut. Dabei wird auch anhand von Original-Interviewausschnitten aufgezeigt, wie der Uhland- und Schmeller-Preisträger Arno Ruoff geforscht hat, wie seine Arbeiten bis heute nachwirken – und auch wie Remmingsheim dadurch zu einem wichtigen Ort der Mundartforschung in Baden-Württemberg geworden ist.

04.07.    Christel Köhle-Hezinger „Evangelisch/Katholisch in Altingen“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/FT9lDmdmknc

Altingen hatte Jahrzehnte lang ein Schulhaus mit zwei Eingängen: durch eine Tür kamen die Evangelischen, durch die andere die Katholischen. Sogar die Toiletten waren konfessionell getrennt. Darüber wie Jahrhunderte lang Konfessionen und damit verbundene Vorurteile Kultur und Alltag teilweise scharf voneinander trennten, berichtet Professor Christel Köhle-Hezinger am Sonntag, dem 4. Juli 2021 ab 15:30 Uhr in Altingen. Köhle-Hezinger, geb. 1945, war Jahrzehnte lang Professorin für Europäische Ethnologie und Kulturforschung an den Universitäten Marburg und Jena. In ihrer Dissertation am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen von 1976 forschte sie über „Evangelisch-Katholisch. Untersuchungen zu konfessionellem Vorurteil und Konflikt im 19. und 20. Jahrhundert vornehmlich am Beispiel Württembergs“. Dazu forschte sie in mehreren paritätischen Dörfern, unter anderem in Altingen. In Ihrem Vortrag blickt sie hinter die Oberfläche offizieller und oft beschönigender Äußerungen und macht die Stereotypen und Einstellungen breiter Bevölkerungsschichten beider Konfessionen sichtbar. In ihrem Vortrag zieht sie gleichzeitig Bilanz ihrer Forschungen zur Frage der Konfessionen. Der Vortrag findet im Rahmen der Reihe „50 Jahre im Feld“ anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen statt.  
Kooperationspartner sind neben dem Landkreis Tübingen die Gemeinde Ammerbuch, die Ortsverwaltung Altingen, die evangelische Kirchengemeinde und die katholische Kirchengemeinde Altingen.  
Veranstaltungsort ist der Dorfplatz in Altingen.

11.07.    Franziska Becker / Hans-Joachim Lang „Judendörfer unter Apostroph – das Beispiel Baisingen“

„Was empfanden Menschen vor Ort, als SA-Männer im November 1938 in den Häusern ihrer jüdischen Nachbarn randalierten, als die letzten Juden 1942 auf Leiterwagen verladen in die Konzentrationslager deportiert wurden?“ Derartigen Fragen gehen Dr. Franziska Becker und Prof. Hans-Joachim Lang in einem Vortrag am 11. Juli 2021 ab 15:30 Uhr in Rottenburg-Baisingen nach. Becker stellte zu diesem Thema in ihrer 1994 erschienenen Magisterarbeit „Gewalt und Gedächtnis. Erinnerungen an die nationalsozialistische Verfolgung einer jüdischen Landgemeinde“ fest, dass Interviewte über die Auslöschung ihrer örtlichen jüdischen Gemeinde nicht so sehr Fakten erzählten, sondern „Ortsgeschichte in Wunschform“ präsentierten. In dem Vortrag geht sie den Versionen mündlich erzählter Heimatgeschichte nach und zeigt Techniken des lokalen Erinnerns. Gemeinsam mit Hans-Joachim Lang, der Jahrzehnte lang als Redakteur des Schwäbischen Tagblatts die hiesige Erinnerungskultur mit gestaltete und Honorarprofessor am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft ist, fragt sie auch nach dem Zweck dieser Erinnerungstechniken. Beckers Studie leistete einen wichtigen Beitrag für den „Jüdische-Studien-Schwerpunkt“ der Tübinger EKW. Der Vortrag findet im Rahmen der Reihe „50 Jahre im Feld“ anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen statt. Kooperationspartner ist neben dem Landkreis Tübingen die Stadt Rottenburg.

18.07.  Bernd Jürgen Warneken „Den Mössinger Generalstreik in die Erinnerungskultur gerückt“

Den aufgezeichneten Vortrag finden Sie hier: https://youtu.be/lLp1jbZmAew

Am 31. Januar 1933 schrieb Mössingen deutsche Geschichte. Zumindest heute gehört der Generalstreik gegen die Machtübergabe an Adolf Hitler und die Nationalsozialisten zur gerne erzählten Erinnerungskultur. Wieso fand diese Aktion des Arbeiter-Widerstands im seinerzeitigen 4.000-Seelen-Dorf am Fuß der Schwäbischen Alb und nicht in der Reichshauptstadt Berlin oder in den großen Industrierevieren des Reiches statt? Der Empirische Kulturwissenschaftler Professor Bernd Jürgen Warneken geht diesen und anderen Fragen rund um den Mössinger Generalstreik in einem Vortrag am Sonntag, dem 18. Juli 2021 ab 15:30 Uhr auf dem Löwensteinplatz (ehemaliges Pausa-Areal) in Mössingen nach. Oberbürgermeister Michael Bulander wird begrüßen. Lange Zeit spielte der Mössinger Generalstreik in der hiesigen und deutschlandweiten Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Erst die Veröffentlichung einer zehnköpfigen Autorengruppe des Ludwig-Uhland-Instituts für empirische Kulturwissenschaft an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1982 erschloss das lokale Thema für die offizielle Erinnerungskultur im Landkreis Tübingen und darüber hinaus. Über bald ein halbes Jahrhundert hinweg diskutierten Mössingerinnen und Mössinger über den Stellenwert des Generalstreiks in der Stadtgeschichte. Seit Januar 2021 informiert die Stadt mit einem „Erinnerungskubus“ im Foyer des Rathauses dauerhaft über das überregional bedeutsame Ereignis. Bernd Jürgen Warneken leitete das Studienprojekt der EKW, dessen Ergebnisse 1982 und erneut 2012 veröffentlicht wurden. Sein Vortrag findet im Rahmen der Reihe „50 Jahre im Feld“ anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Empirischen Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen statt. Kooperationspartner ist neben dem Landkreis Tübingen die Stadt Mössingen.