(Nur) ein Kollateralschaden?
von Dr. Patrik Hummel
19.07.2021 · Hinweise auf Kollateralschäden haben wir in Diskussionen um COVID-19 höchstwahrscheinlich mehr als einmal entweder selbst in die Waagschale geworfen oder zur Kenntnis genommen. Gestützt werden mit solchen Hinweisen eine Bandbreite von verschiedenen Schlüssen, gezogen von ganz verschiedenen Akteur*innen: einerseits Expert*innen in Medizin, öffentlicher Gesundheit, Psychologie und weiteren Bereichen, andererseits die sog. Querdenker-Bewegung, die beispielsweise für den 1. Mai 2021 in München eine (letztlich untersagte) Demonstration mit dem Titel „Wir ziehen Bilanz: Verfassungswidrigkeit und Kollateralschäden der Coronamaßnahmen“ plante.
Was können solche Hinweise leisten? Nicht nur Arnold-Schwarzenegger-Connaisseur*innen ist wohlbekannt, dass mit Kollateralschaden ein Schaden gemeint ist, der bei der Verfolgung eines Ziels unbeabsichtigt oder nicht direkt beabsichtigt entsteht und, soweit antizipiert, in Kauf genommen wird bzw. wurde. Der Bezug zur Pandemie ist folgender: Die Infektionszahlen müssen gesenkt werden. Dafür sind Einschränkungen der Bewegungsfreiheit bis zur flächendeckenden Verfügbarkeit von Impfungen das beste Instrument. Solche Maßnahmen verursachen jedoch auch Schäden. Zwar werden COVID-19-Risiken verringert, befürchtet wird jedoch, dass medizinische Behandlungen verschoben werden, Menschen unter häuslicher Gewalt, die mentale Gesundheit z.B. durch Einsamkeit und Monotonie, und unsere Körper durch Homeoffice, Bewegungsmangel und geschlossene Fitnessstudios im großen Stil leiden.
Eine erste Lesart von Hinweisen auf Kollateralschäden ist somit, dass sie bisher nicht bedachte Konsequenzen unserer Handlungen aufs Tableau bringen. Insoweit sie die Aufmerksamkeit auf Schäden oder Aspekte derselben lenken, die bisher noch unberücksichtigt blieben, stellen solche Hinweise einen willkommenen und unverzichtbaren Beitrag zur Verbesserung von Entscheidungsgrundlagen dar.
Einer zweiten Lesart nach, kritisieren Hinweise auf Kollateralschäden getroffene Entscheidungen (retrospektiv) oder fordern das Verfolgen bestimmter Handlungsoptionen ein (prospektiv). Dabei stellen sich eine Reihe von Herausforderungen. Kollateralschäden sind zwar meist bedauerlich und, gerade wenn unvorsichtig in Kauf genommen, Anlass zur Zuschreibung von Verantwortung. Sollten wir daher stets so entscheiden, dass möglichst nie Kollateralschäden entstehen? Im Idealfall womöglich, in der COVID-19-Pandemie schwerlich: Schränken wir das öffentliche Leben ein, ergeben sich die gerade genannten Schäden, machen wir weiter, als sei nichts gewesen, kollabiert das Gesundheitssystem, von weiteren Folgen wie Long COVID ganz zu schweigen. Schäden entstehen in beiden Szenarien, und jedem Kompromiss zwischen ihnen.
Besonders knifflig sind Fälle wie die Frühphase der COVID-19-Pandemie, in denen unter Unsicherheit ein Maß zwischen Handlungsoptionen mit jeweils vermutlich hohem, aber schwer vergleichbarem und bezifferbarem Schadenspotential gefunden werden muss. Dass hier manchmal von Maßnahmen wieder Abstand genommen wird, wenn sich der Wissenstand erweitert, sagt wenig darüber aus, ob die Einschätzung eines Kollateralschadens zum Entscheidungspunkt ungerechtfertigt war. Wir navigieren unübersichtliches Terrain.
Selbst ob man Kollateralschäden notwendig minimieren sollte, ist nicht offensichtlich. Eine Handlung kann selbst dann einen optimalen Erwartungswert haben, wenn sie mit höheren Schäden verbunden ist als andere Optionen. So verursachen zum Beispiel medizinische Eingriffe, wie Operationen, zuweilen höhere Kollateralschäden als ihre Alternativen (z.B. Nichtstun), sind deswegen jedoch im Lichte ihrer (erhofften) positiven Effekte nicht prinzipiell abzulehnen.
Zu guter Letzt stehen uns, je nach Art des Schadens, auch bei unvermeidbaren Kollateralschäden Möglichkeiten zur Eindämmung offen, z.B. soweit möglich die Wiederherstellung von Ausgangszuständen und die Entschädigung der Geschädigten.
Keiner dieser Punkte impliziert, dass wir auf die Kritik einer schadhaften Handlung und der Entscheider*innen, die sie gewählt haben, verzichten müssen. Die These ist lediglich, dass aus Gründen, wie den genannten, das Vorliegen oder die Erwartbarkeit selbst hoher Kollateralschäden alleine wenig über die Vorzugswürdigkeit einer Maßnahme aussagt. Manchmal kann es akzeptabel oder gar geboten sein, bestimmte Schäden in Kauf zu nehmen, vor allem in Situationen, in denen Schäden unvermeidbar sind, sie zum Entscheidungszeitpunkt Teil der scheinbar besten Option sind, durch ihre Inkaufnahme hinreichend hoher Nutzen generiert wird und/oder sie kompensiert werden können.
Eine dritte Lesart legt nahe, dass Hinweise auf Kollateralschäden implizit einen weiteren, dringlichen und nicht immer hinreichend beachteten Zweck verfolgen. Sie lenken den Fokus auf die Frage, wie wir Güter priorisieren möchten und welche Schäden beim Verfolgen von Zielen akzeptabel sind bzw. zumindest wohl oder übel in Kauf genommen werden müssen.
Gerade dies erklärt, warum die Klassifizierung eines Schadens als Kollateralschaden massiv irritieren kann. Mehr oder weniger implizit kann sie Momente der Rechtfertigung oder Relativierung beinhalten, z.B. indem ein Primärziel hochgehalten und mitverursachte Ereignisse als nachrangige side effects umrissen und vom Zentrum in die Peripherie des Entscheidungsproblem verlagert werden. Um es mit Arnold Schwarzenegger in einem Streifen von, sagen wir, insgesamt eher streitbarer Qualität zu veranschaulichen: Nach dem Tod von Gordy Brewers (aka Arnold) Familie bei einem politisch motivierten Attentat bringt gerade die Einlassung eines Sympathisanten der Attentäter, die zivilen Opfer seien ein Kollateralschaden bei der Verfolgung eines höheren politischen Zwecks, das Fass zum Überlaufen. Hier bestehen zweifelsohne wichtige Kontraste zum Protest gegen Pandemiebekämpfung, aber auch die Gemeinsamkeit, dass sich empfundene Missachtung angesichts der Unterordnung von Kollateralschäden unter andere Ziele und Zwecke zeigt und entlädt (ohne dass Empfindung und/oder Entladung über Kritisierbarkeit erhaben wären).
Vor dem Hintergrund dieser drei Lesarten möchte ich zwei konstruktive Punkte formulieren. Erstens erscheint es wünschenswert und durchaus möglich, die zweite und dritte Lesart ins Gespräch zu bringen und bei der Inkaufnahme von Kollateralschäden Momente der Unsicherheit, Alternativlosigkeit und Verhältnismäßigkeit proaktiv zu erläutern und zu debattieren (z.B. dass in der Pandemiebekämpfung rasch und aus einer begrenzten Anzahl von Handlungsoptionen unter Unsicherheit gewählt werden musste). Gleichzeitig sollte alles Erdenkliche getan werden, um die Stimmen der Betroffenen zu hören sowie die Bürde der Geschädigten anzuerkennen und zu mindern. Auch wenn an dieser Stelle nicht weiter ins Detail gegangen werden oder eine Bewertung erfolgen kann, ist es gerade der letztgenannte Punkt, für den die Familien- und Bildungspolitik während der Pandemie kritisiert wird.
Zweitens verlangt die Umsicht im Zusammenhang mit Kollateralschäden auch ein Bewusstsein für die Tatsache, dass sie einer Aufmerksamkeitsökonomie unterliegen. Die Pandemie hat uns, wenn wir nicht bereits zuvor Profi-Epidemiolog*innen waren, immerhin zum Status von Hobby-Epidemiolog*innen mit geschärften Sinnen für tagesaktuelle Fall- und Mortalitätsdaten verholfen. Als solche sollte uns zutiefst beunruhigen, dass die Antwort auf COVID-19 global zu Ressourcenbindung und massiven Einschränkungen in der Bekämpfung derjenigen Krankheiten geführt hat, die seit Jahrzehnten im globalen Süden zu für uns schwer fassbaren Schäden führen, in unserer öffentlichen Wahrnehmung jedoch kaum eine Rolle spielen. Dies bedeutet nicht, dass bei uns eingetretene Kollateralschäden bereits hinreichend beachtet und adressiert wurden. Vielmehr stellt sich die Frage, ob wir bereit sind, Verweise auf Kollateralschäden konsequent weiterzudenken und den indirekten sowie räumlich entfernten Effekten der Pandemie und ihrer Bekämpfung ebenfalls zu begegnen. Lassen Sie uns daher weiter angeregt darüber sprechen, welche Kollateralschäden bisher unberücksichtigt blieben und Handlungskorrekturen erfordern.
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