International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Soweit die Gründe tragen

Zum Spannungsverhältnis zwischen verallgemeinerter Klimawandelargumentation und kontextbezogenen Einwänden

von Florian Braun, CAU Kiel

07.10.2021 · Viele proaktive Befürworter:innen der Energiewende setzen auf die „Klimawandelargumentation“. Verkürzt besagt sie: Aufgrund des Klimawandels sollen die Erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Diese allgemeine Formulierung erfährt seit Langem auch eine hohe Zustimmung in der Gesamtbevölkerung.1 Allerdings zeigt sich in den letzten Jahren verstärkt die Haltung, mit Hilfe dieser Argumentation Vorhaben in jedem Kontext pauschal zu rechtfertigen. Dadurch wird jedoch die Argumentationspraxis des technisch-praktischen Schließens missverstanden. Denn einige der Vorhaben erweisen sich in bestimmten Kontexten als unangemessen, obwohl sie aus der gut begründeten Klimawandelargumentation hergeleitet werden können. Zudem verengt die pauschalisierte Rechtfertigung einen konstruktiven Umgang mit den Einwänden, durch die die Schlüsse aus der Klimawandelargumentation in bestimmten Vorhaben – wie Windparks in brandgefährdeten Wäldern – adaptiv angepasst werden könnten. Im Beitrag wird kurz skizziert, in welcher Form die Klimawandelargumentation im Energiediskurs überstrapaziert wird und warum kontextbezogene Einwände diskurskonstruktiv eingebunden werden sollten.2

Die Tragfähigkeit der Klimawandelargumentation lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich die überzeugenden Teilaspekte der mehrstufigen Herleitung vergegenwärtigt:

  1. auf inhaltlich-deskriptiver Ebene wird das sichere Wissen um die (gefährlichen) Folgen des anthropogen verstärkten Klimawandels vorausgesetzt (a),3

  2. auf moralisch-präskriptiver Ebene wird das allgemein anerkannte Gebot zur Vermeidung von Schädigungen des Menschen und der Umwelt (b)4 beachtet und

  3. auf instrumentell-erklärender Ebene werden nacheinander drei allgemeine Ziele gesetzt:

    • die Treibhausgas-Reduktion (c)5 zur Eindämmung des Klimawandels,

    • in deren Folge die Energiewende (d)6 als Ausstieg aus der Nutzung fossiler Energieträger und

    • anschließend der massive Ausbau der Erneuerbaren Energien (e) als eine zweckmäßige Alternative.7

Im Fokus steht folgend die pauschalisierte Verwendung der Klimawandelargumentation gegenüber denjenigen, die zwar die Teilargumente (a) bis (d) befürworten, aber die Zielsetzung (e) in spezifischer Weise kritisieren. Sie bestreiten, dass auf Basis von (a) bis (d) Vorhaben in jedem Kontext gerechtfertigt werden können. Weiterhin variieren sie die Zielsetzung (e), indem sie aus (a) bis (d) „nur“ einen im Kontext angemessenen Ausbau der Erneuerbaren Energien (e’) herleiten. Vorhaben können demnach unangemessen mit Blick auf die Bedingungen im lokalen Kontext sein. Genannt werden oft die Besonderheiten der Region, des Gemeindelebens etc. sowie individuelle Präferenzen (etwa zur Landschaftsästhetik) und Emotionen (etwa Ängste). Kontextbezogene Einwände verweisen zugleich auf Kriterien, nach denen diese aus Sicht der Kritiker:innen abgewogen werden sollten. Hinter der Befürchtung, dass Windparks in brandgefährdeten Wäldern das Brandrisiko erhöhen, steht bspw. der Anspruch, dass im Kontext „Wald“ die Brandgefährdung als ein Prüfkriterium anerkannt wird.8 Kontextspezifische Einwände stoßen mitunter auch komplexe Abwägungsfragen an, durch die die Spannungsverhältnisse zwischen Klimaschutz einerseits und weiteren allgemeinen (bspw. Naturschutz) oder ggf. schützenswerten individuellen Interessen (bspw. Lebensqualität) andererseits problematisiert werden.

Dennoch gab es bereits Ende der 1990er Jahre die Tendenz, alle Einwände pauschal zu marginalisieren. Hermann Scheer, einer der Vordenker der Energiewende, schrieb: „Eine rationale Diskussion, in der sich die gegen die Windkraft ins Feld geführten Vorbehalte leicht widerlegen lassen, ist kaum möglich, weil die Verfasser der Attacken daran gar nicht interessiert sind.“9 Einerseits lag Scheer richtig, da viele Einwände teils auf fehlenden Kenntnissen beruhen, oder teils bewusst manipulativ eingesetzt werden. Andererseits ging er zu weit, wenn er allen Kritiker:innen eine Gleichgültigkeit gegenüber rationalen Argumentationskriterien unterstellt. Dennoch hält sich diese Sichtweise hartnäckig. Auch die Akteur:innen der politischen Klimabewegung Fridays for Future (FFF) werfen dem politischen Establishment sowie den Energiewendekritiker:innen Ignoranz gegenüber der wissenschaftlich begründeten Klimawandelargumentation vor. So hebt bspw. eine prominente Vertreterin, Luisa Neubauer, in einem Interview hervor: „Wir hören bei der Klimawissenschaft auf die Wissenschaft; wir hören bei den Virologen auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Und wir leben das auch ein Stück weit vor.“10

An Neubauers Statement wird deutlich, dass Befürworter:innen der Energiewende sich auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie sich auf die Praxis naturwissenschaftlichen Begründens berufen. Allerdings unterscheidet sich diese Argumentationspraxis durchaus von der technisch-praktischen, die in der Klimawandelargumentation zum Tragen kommt. Denn erstere basiert auf naturwissenschaftlichen Erklärungen, durch die deskriptive Sacherkenntnisse wie (a) anhand von Naturgesetzen deduktiv-nomologisch begründet werden. Der Schluss auf (e) hingegen folgt der Praxis technisch-praktischer Herleitung, in der die naturwissenschaftliche mit zwei weiteren Argumentationspraxen verbunden wird: mit der moralisch-ethischen Rechtfertigung anhand eines präskriptiven Gebots (b) und der instrumentell-pragmatischen Erklärung anhand allgemeiner Ziele und zweckmäßiger Mittel (c, d, e). Diese Verknüpfung bleibt von ihrer Grundstruktur her immer spekulativ, weil insbesondere die instrumentelle Erklärung (c, d, e) auf verallgemeinerten Zweck-Mittel-Zusammenhängen aufbaut. Das heißt, dass durch eine gezielte Ausblendung der Randbedingungen konkreter Kontexte Ziele und Mittel als allgemein zweckmäßig angesehen werden. Somit bleibt (e) hinsichtlich der tatsächlichen Zweckmäßigkeit von konkreten Vorhaben im Kontext unterbestimmt.

Auf diese Unterbestimmtheit bezieht sich auch die Rede von einem angemessenen Ausbau in (e’). Denn normalerweise ergeben sich daraus zwei Aufgaben: Zum einen muss die allgemeine Zweckmäßigkeit von Mitteln in den Vorhaben mit Blick auf den Kontext konkretisiert und angepasst werden. Zum anderen müssen umgekehrt diese Anpassungen wieder zurückgespielt und in verbesserte rechtliche Rahmenbedingungen, Verwaltungsvorschriften, Fördermaßnahmen etc. „übersetzt“ werden.11 Dadurch wird die offene Zielsetzung (e’) sukzessive mit Praxiserfahrungen des Mittelgebrauchs angereichert. Der beschriebene argumentativ-diskursive Kreislauf wird nicht zuletzt durch eine systematische Prüfung kontextbezogener Einwände „provoziert“ (bspw. der Furcht vor Brandgefährdung).12

In den bisherigen Phasen der Energiewende wurden Einwände jedoch kaum auf ihre kontextbezogene Angemessenheit geprüft. Im Vordergrund stand vielmehr ihre „Verfahrenswirksamkeit“, also die Frage, ob sie bestehende rechtliche Rahmenbedingungen und Verwaltungsvorschriften (etwa Artenschutzbestimmungen etc.) berühren und deshalb in Planungs- und Genehmigungsverfahren einbezogen werden müssen. Die Einwände, die die Verfahren nicht betrafen, wurden dann häufig im erwähnten Sinn marginalisiert. Eine darüberhinausgehende Prüfung schien auch aus demokratischer Perspektive nicht unbedingt angebracht, da die bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen durch eine Bevölkerungsmehrheit politisch legitimiert und auch allgemein akzeptiert sind. Die Einwände kommen hingegen eher aus der Minderheit der Bürger:innen, die in ihrem alltäglichen Umfeld mit den Lasten konkreter Vorhaben konfrontiert sind. Das dadurch gezeichnete Bild einer lautstarken, in Teilen irrational argumentierenden Minderheit gerät aber bereits ins Wanken, wenn in repräsentativen Umfragen nach der Zustimmung zum Ausbau der Erneuerbaren Energien im direkten Wohnumfeld gefragt wird. Im Falle der Windkraft sinkt die hohe allgemeine Zustimmungsrate dann fast um die Hälfte.13 Das deutet darauf hin, dass die Angemessenheit technisch-praktischer Schlussfolgerungen nicht nur von objektivierbaren Kriterien abhängt (etwa in Form rechtlicher Rahmenbedingungen), sondern auch von den individuellen Abwägungen, wenn man wirklich persönlich von Lasten betroffen sein könnte.

Für ein gutes Gelingen der Energiewende scheint es daher unumgänglich, den angesprochenen Individualitätsaspekt in die Beurteilung der Angemessenheit von technisch-praktischen Schlüssen einzubeziehen. Damit gehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten einher. Diese lassen sich anschaulicher an der ebenso durch (a) bis (d) gerechtfertigten Mobilitätswende erläutern, da mit ihren Folgen fast alle Bürger:innen konfrontiert sein werden. Es werden sich alle, wie die Anwohner:innen eines Windparks, fragen müssen, wie sie real, also im je eigenen Leben mit den Vor- und Nachteilen konkreten Maßnahmen umgehen wollen. Dass dadurch Abwägungen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten, die bisher sehr individuell getroffen wurden, zeigt sich einschlägig an der Diskussion über prominente Klima-Aktivist:innen. Ihnen wird genauso eine „Doppelmoral“ vorgeworfen, wenn sie entgegen ihren Forderungen mit dem Flugzeug fliegen, wie den „klimabewussten Berliner:innen“, wenn diese das Tempelhofer Feld nicht proaktiv mit einem Windpark bebauen wollen.14

Aus solchen überspitzten Vorwürfen ergeben sich indirekt weitere Hinweise zur Angemessenheit: Auf allgemeiner Ebene befürworten wir oft ambitionierte technisch-praktische Schlüsse, deren Reichweite und Interpretation jede Person für sich anschließend anhand kontextbezogener Randbedingungen auf kluge Weise abwägt. Bildlich gesprochen, führt ein kluges kontextualisiertes Abwägen zu einem Flussdelta, in welchem sich der argumentative Hauptstrom aufgrund der unzähligen Unwegsamkeiten des Alltags fortwährend in Nebenarme verästelt, die mitunter auch in Totarmen enden können. Zu Beginn jeder Verästlung steht eine Klugheitsregel, beim obigen Vorwurf der Doppelmoral etwa die tugendethische Gebotsauthentizität. Flapsig gesprochen besagt sie: Wer Wasser predigt, sollte nicht Wein trinken. Beim individuellen Abwägen im Alltag nutzen nicht wenige diese Regel als wichtigen Gradmesser der kontextbezogenen Zweckmäßigkeit von Mitteln.

Allerdings lassen sich Klugheitsregeln nicht blindlings kontext- und personenübergreifend einsetzen oder in der Anwendung verstetigen. Auch dazu lohnt ein Blick auf den Mobilitätsdiskurs. Als Beispiel lässt sich der derzeitige Boom des „Vanlife“ heranziehen, der auch die Gruppe der klimabewussten jungen Erwachsenen erfasst hat. In Zeiten der Corona-Pandemie machen es Klugheitsregeln zum Umgang mit Reisebeschränkungen, Erholungsbedarf etc. nachvollziehbar, größere Minibusse trotz des hohen Kraftstoffverbrauchs zu nutzen. Diese Anpassung und erst recht ihre Verstetigung in der Mobilitätskultur tragen dazu bei, das Dekarbonisierungsziel im Mobilitätssektor zu untergraben.15 Daher wäre die Analyse von Klugheitsregeln in diesem Fall genauso hilfreich wie im Konfliktfall, in welchem klimabewusste Bürger:innen gegen einen Windpark in einem brandgefährdeten Wald protestieren. Dadurch ließen sich die häufig stillschweigend verwendeten Regeln des klugen, das je eigene Leben betreffenden Abwägens für eine umfassende Energiewende fruchtbar machen. Denn eine, an diesen kontextsensitiven Klugheitsregeln ausgerichtete Energiewende, würde das Erreichen ambitionierter Zielsetzungen wie (c) und (d) stark befördern, da bei einer entsprechenden Anpassung der Mittel eine größere Bandbreite an individuellen Abwägungen möglich wird. Im Gegensatz zur pauschalisierten Marginalisierung von Einwänden führt dieser Weg dazu – um im obigen Bild zu bleiben –, dass das Delta der Klimawandelargumentation weiterhin in einem lebendigen Fluss bleibt und nicht sukzessive begradigt wird.

Ich danke an dieser Stelle Christian Baatz, Nico Naeve, Eva Eichenauer und den drei Gutachter:innen für die hilfreichen Anmerkungen zu den Vorversionen dieses Beitrags.

 

Literatur

 

Agora Energiewende (2020): Sofortprogramm Windenergie an Land

Braun, Florian (2023): Klimaverantwortung und Energiekonflikte. Nomos: Baden-Baden. https://doi.org/10.5771/9783748924791

Braun, Florian (2017): Naturwert und Praxis. Zur Begründungsfunktion der Praxiserfahrung in Bryan Nortons umweltethischem Pragmatismus. In: Jahrbuch Praktische Philosophie in globaler Perspektive, Band 1, 162–196

Braun, Florian und Christian Baatz (2017): Klimaverantwortung. In: Ludger Heidbrink et. al.: Handbuchverantwortung. Springer Fachmedien: Wiesbaden, S. 855–886

Braun, Florian und Christian Baatz (2018): Klimaverantwortung und Energiekonflikte. Eine klimaethische Betrachtung von Protesten gegen Energiewende-Projekte. In: Nikolaus Buschmann et al.: Reflexive Responsibilisierung. Verantwortung für nachhaltige Entwicklung, Transcript: Bielefeld

Roser, Dominik und Christian Seidel (2013): Ethik des Klimawandels. WBG: Darmstadt

Scheer, Hermann (1998): Windiger Protest. Das Zukunftspotential der Windenergie gegen egoistische und traditionalistische Verweigerungsmotive. In: Windiger Protest. Konflikte um das Zukunftspotential der Windkraft. Ponte Press: Bochum, S. 11–32

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1Siehe dazu die AEE-Umfrage von 2020 und früheren Jahren: https://www.unendlich-viel-energie.de/presse/pressemitteilungen/zustimmung-fuer-den-ausbau-der-erneuerbaren-energien-bleibt-hoch (Stand: 20.09.2021).

2Ausführlich dazu: Braun 2022*.

3Braun/Baatz 2017: 867.

4Roser/Seidel 2013: 25–33.

5Roser/Seidel 2013: 34–43.

6Braun/Baatz 2018: 33–36.

7https://www.faz.net/-gqe-abfww (Stand: 30.06.2021) oder Agora Energiewende 2020: 11, 27.

8Eine Leitlinie zur Brandbekämpfung im Fall, dass die internen Löschanlagen einer Windkraftanlage nicht funktionieren, verweist auf ein kontrolliertes Abbrennen (siehe: Feuerwehrmagazin, Sonderheft „Erneuerbare Energien“ (1/2015), S. 57). Zur adaptiven Anpassung der Klimawandelargumentation für diesen Fall im Sinn von (e) siehe https://www.windpark-dachsberg.de/wind-im-wald/ (Stand: 02.07.2021) und im Sinn von (e’) siehe https://brandenburg.nabu.de/umwelt-und-ressourcen/energie/windkraft/13840.html (Stand: 02.07.2021).

9Scheer 1998: 19.

10https://fridaysforfuture.de/presseerklarung-fridays-for-future-kritisiert-eeg-einigung-der-bundesregierung-dringend-benotigte-ausbauerhohungen-kamen-zu-spat-und-seien-zu-schwach/ (Stand: 05.08.2021) oder https://resilientfutures.podigee.io/6-f4f-neubauer, siehe Minute 06:30 ca.

11Braun 2017: 168, 173–179.

12Braun/Baatz 2018: 36–38.

13Siehe Quelle Fußnote 1.

14https://www.welt.de/print/welt_kompakt/vermischtes/article189470855/Fliegen-muss-teurer-werden.html (Stand: 01.07.2021) oder https://zeitung.faz.net/faz/wirtschaft/2019-02-16/gruene-klimaschuetzer-und-vielflieger/270123.html?GEPC=s5 (Stand: 01.07.2022) oder https://www.tagesspiegel.de/berlin/streit-um-windenergie-stellt-windparks-auf-das-tempelhofer-feld/25639424.html (Stand: 20.09.2021).

15 Alltagsnah diskutiert auf https://www.bravebird.de/blog/warum-vanlife-nicht-nachhaltig-ist/ (Stand: 06.08.2021).

 

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/218196