Wer beim Würfelspiel dreimal hintereinander eine Sechs würfelt, mag erfreut ausrufen: „Was für ein Zufall!“. Dass ein Vulkanausbruch Pompeii unter Asche begräbt, wird als „unglücklicher Zufall“ bezeichnet. Die fehlende Berechenbarkeit des Zerfalls eines Atomkerns muss mangels epistemischen Zugangs als zufälliges Ereignis in der Zeit aufgefasst werden. Was all dieser Ereignisse vereint ist deren Unerwartbarkeit – und doch lässt sich in jedem der Zufallsereignisse eine gewisse Systematik finden. Bei 1000-maligem Werfen eines Würfels ist die Augensumme aller Würfe recht nahe bei 3.500. Und nach 30 Jahren ist ziemlich genau die Hälfte von einer größeren Menge des Cäsiums zerfallen. Diese Systematiken verraten, dass es sich um regelhafte Phänomene handelt, wir also mit genügend Informationen den Zufallscharakter aus den Daten vertreiben könnten. Der Zufallscharakter entsteht durch den Einfluss von unkontrollierten Störvariablen. Um diese Systematiken trotz der unkontrollierten Einflüsse von bekannten und unbekannten Störvariablen formalisieren zu können, nutzen wir Wahrscheinlichkeitstheorie. Sie ist fester Bestandteil heutiger Naturwissenschaften.
Wenn sich aber der Zufallscharakter der bisherigen Phänomene durch fehlendes Wissen erklären lässt, so bleibt die Frage, ob es dann wirklich Zufall gibt, Zufall, der dem Innersten der Welt entspringt. Das wären Phänomene, die sich der determinierenden Wirkung von Naturgesetzen entziehen und dem Notwendigkeitsgestus der Kausalität entgehen. Es lässt sich hierbei an Quantenmechanik denken, an die lebendig-tote Katze Schrödingers oder an eine Vor-Naturgesetzliche Zeit: Eine Zeit vor dem Urknall, mit dem die Naturgesetze erst beginnen.
Die Rede vom Zufall ist systematisch mehrdeutig. Wir wollen im Studienkolleg diesen Begriff selbst klären und dann seine unterschiedlichen Verwendungsweisen in den Wissenschaften erkunden.
Dabei werden u.a. diese Fragestellungen eine Rolle spielen:
- Die Zähmung des Zufalls: Was hat der Zufall mit Wahrscheinlichkeit bzw. der Interpretation von Wahrscheinlichkeitsaussagen zu tun?
- Zufall in der Physik: Der Laplace’sche Dämon, Deterministisches Chaos und „echter“ Zufall in der Quantentheorie
- Biologie: Die Evolution des Lebendigen zwischen Zufall und Zwangsläufigkeit
- Der Zufall im Recht: Die Grenzen zwischen Handlung und Zufall
- Zufall in Politik und Gesellschaft: Zufall(sprinzipien) als gerechtes Entscheidungskriterium oder staatliche Willkür?
- Theologie: Prädestination, Kontingenz in der Schöpfung
- Computer und Zufall: Pseudozufall im Computer erzeugen?
- Über das Spannungsverhältnis von Zufall und freiem menschlichen Handeln