Tübingen Forum for Science and Humanities

Vortrag & Diskussion

Wann: 29. Januar 2025, 18:00 Uhr s.t.
Wo: Alte Aula, Münzgasse 30, 72070 Tübingen

Prof. Dr. med Ulrich Dirnagl,  Experimentelle Neurologie, Charité Berlin; Gründungsdirektor des QUEST Centers (QUality-Ethics – open Science – Translation) am Berlin Institute of Health (BIH)

Die epistemische Autorität der Wissenschaft: Wieso fordern Wissenschaftler Vertrauen, wo doch deren Norm der organisierte Skeptizismus ist? 
 
Abstract:

Sind sie wie ich auch überzeugt davon, dass der Klimawandel vom Menschen verursacht ist und eine planetare Bedrohung darstellt? Wenn ja, warum trauen wir, im Gegensatz zu den Klimawandelleugnern, eigentlich den Berichten und Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC)? Vermutlich verstehen wir nicht wesentlich mehr von deren Messungen, Modellierungen und den diesen zugrundeliegenden Annahmen als Donald Trump!

In meinem Vortrag werde ich den Fragen nachgehen, worin eigentlich die epistemische Autorität der Wissenschaft besteht, und in welchem Verhältnis sie zu Vertrauen und Skeptizismus sowie den Ursachen für Wissenschaftsskepsis steht. Ich werde argumentieren, dass Wissenschaft Vertrauen verdient, da ihre Erkenntnisse durch einen kollektiven (sozialen) Prüfungsprozess, organisiertem Skeptizismus und Selbstkorrektur gewonnen werden. Die aktuelle Wissenschaftsskepsis richtet sich jedoch gar nicht gegen die Wissenschaft und ihre Methoden, sondern vielmehr gegen Wissenschaftler, die sich einem verachtetem politischen Systems "andienern". Es handelt sich um Elitenkritik, der Vorwurf an die Wissenschaftler ist, dass sie gegen gleich zwei ihrer Normen verstossen: Skeptizismus und Uneigenutz (Disinterestedness). Wissenschaftliche Befunde zu Klimawandel oder Impfungen stoßen deshalb auf Ablehnung, weil sie Konsequenzen für das eigene tägliche Leben haben (sollten). Polarisierung entlang systemischer Kritik (Deep state, Lügenpresse etc.) prägen diese Skepsis, beeinflusst durch gezielte Desinformationsstrategien („Merchants of Doubt“). Ich behaupte, dass wir den Berichten des IPCC vertrauen, weil wir selbst Teil der wissenschaftlichen Elite sind. Weil wir wissen, dass wissenschaftliche Erkenntnisse das Ergebnis eines einzigartigen sozialen Überprüfungs- und Konsensprozesses sind. Vertrauen und Skeptizismus sind dabei paradoxerweise kein Widerspruch: Wir vertrauen in die Wirksamkeit des organisierten Skeptizismus!