International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Ethische Reflexion als Orientierungswissen

von Jonathan Lübke

25.01.2024 · Wieso gibt es unzählige Varianten von Geschichten darüber, wie die Welt (bald) untergeht, aber so wenige Gegenentwürfe? Wo sind die Utopien und warum scheint es so, als würde uns das Entwickeln von positiven Gedanken viel schwerer fallen, als apokalyptische Fantasien zu spinnen? Die multiplen und sich immer weiter überschneidenden Krisen und Kriege an vielen Orten dieser Welt und nicht zuletzt die Klimakrise vermindern zunehmend die Zuversicht, dass es morgen besser sein könnte als heute. Das Kämpfen für ein besseres Morgen („den Kindern soll es mal besser gehen als uns“) war eine starke gestalterische Motivation für viele Menschen. Sie hat sich verkehrt: Heute kämpft man dafür, dass „es den Kindern mal nicht schlechter geht“. Die Minderung oder der Verlust dieser Motivation kann auf der einen Seite dazu führen, dass Menschen ihr Leben und ihre Welt in operativer Hektik mehr bewältigen als gestalten wollen, und auf der anderen Seite auch dazu, dass man eben auch gar nicht mehr weiß, was richtig ist und wofür man sich einsetzen sollte. Dieser Mangel an Orientierung wird für viele Menschen zu einem Ballast, der progressive Energien lähmt und häufig auch zu einem gänzlichen Rückzug aus politischem Engagement führt. Ethische Reflexion fragt immer wieder nach Bedingungen des guten Lebens und ist eine „Reflexionsgestalt gelebter Moral“[1], weshalb sie eine Praxis darstellt, die immer wieder auch Orientierung über das Bestehende hinaus ermöglicht.

Als Wissenschaftler*in darf und sollte man reflektieren, was die eigene Arbeit mit diesem Mangel an Orientierung zu tun haben könnte und auch welche Rolle das wissenschaftliche System in dieser Hinsicht spielt. Schließlich erwartet eine sich selbst als aufgeklärt verstehende Gesellschaft keine Antworten mehr aus den Religionstexten, sondern welche, die auf der Basis wissenschaftlichen Arbeitens entstanden sind. In diesem Blog-Artikel wird die Problematik mangelnder Orientierung als ein Spannungsfeld zwischen Verfügungswissen und Orientierungswissen gerahmt mit besonderer Berücksichtigung der ethischen Reflexion als eine Form von Orientierungswissen.

Die Differenzierung zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen ist hilfreich. Diese Unterscheidung begegnet einem unter anderem im Bereich der Wissenschaftstheorie- und Wissenschaftsgeschichte. Das moderne wissenschaftliche System kann dahingehend kritisiert werden, dass es fast nur noch Verfügungswissen produziert und nicht mehr in der Lage ist Orientierungswissen zu generieren[2]. Verfügungswissen bezeichnet dabei ein Wissen über Ursachen, Wirkungen und Mittel. Es dient einem spezifischen Zweck, wie beispielsweise der Anwendung eines neuen technischen Gerätes. Orientierungswissen dagegen wird ein Wissen genannt, das dazu dient, sich in der Welt besser zurechtzufinden und ein Gespür dafür zu entwickeln, „wo es hingehen soll“. Es stellt sich die Frage, inwiefern die Arbeit der ethischen Reflexion in Verbindung mit der Projektarbeit und Lehrtätigkeit des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) in der Lage ist, dieser Unausgeglichenheit entgegenzuwirken und warum das eine zentrale Aufgabe ethischer Lehre und Forschung sein sollte.

Um besser zu verstehen, warum Orientierungswissen zur Mangelware geworden ist, müssen wir einen zumindest kurzen Blick auf die Entwicklung des wissenschaftlichen Systems im und nach dem 18. Jahrhundert werfen. An den Universitäten wurden  deutlich weniger Fächer unterrichtet. Die großen Fakultäten von damals kennen wir noch daher, was unser allseits geliebter Faust meint alles studiert zu haben und sich trotzdem nicht schlauer fühlt. Diese paar Fächer haben sich mit der Zeit immer weiter differenziert und neue sind dazugekommen, wobei man zwischen Außen- und Innendifferenzierung unterscheiden kann. Als Außendifferenzierung lässt sich dabei die Bildung wissenschaftlicher Disziplinen aus der Gesellschaft heraus beschreiben (Bildung einer neuen Disziplin, wie bspw. der Soziologie im 19. Und 20. Jahrhundert). Als Innendifferenzierung dagegen kann man die Differenzierungsprozesse betrachten, die innerhalb der jeweiligen Disziplinen stattfinden. So haben sich bspw. im 19. Jahrhundert aus dem, was man damals „Naturgeschichte“ genannt hat, die Disziplinen Geologie, Mineralogie oder Chemie herausgebildet[3]. Dieser bis heute fortschreitende und sich sogar noch, teils bis zur Absurdität, verstärkende Prozess (beispielhaft sei hier die „Promenadologie“ erwähnt) kann in einer fachspezifischen Hinsicht als Professionalisierung begrüßt werden, bedeutet allerdings auch häufig, dass die sich immer weiter differenzierenden Teilbereiche ein gesellschaftlich nicht integriertes Eigenleben führen.

Die Situation ließe sich also so beschreiben, dass es unzählige neue Fächer und Forschungen gibt, aber immer weniger Leute außerhalb dieser Fächer, also auch andere Wissenschaftler*innen, damit etwas anzufangen wissen[4]. Das liegt einerseits daran, dass kaum noch jemand die Expertise und oder die Zeit und Lust besitzt, einen fachfremden Artikel zu lesen. Andererseits auch daran, dass es einem nicht einmal mehr in seinem eigenen Fach gelingt, einen Überblick über alle erscheinenden Schriften zu gewinnen. Diese Überforderung kann dahingehend umschlagen, dass jede*r sich seine Nische sucht, in der sie oder er wenigstens noch ein bisschen Bescheid weiß. Dieses Spezialwissen lässt sich aber immer schlechter mit anderen Horizonten in einen Zusammenhang bringen, weshalb diese womöglich wichtigen Inhalte keine transwissenschaftliche und keine gesellschaftliche Integration erfahren. Vieles davon lässt sich gut auf Forschungsprojekte übertragen: Sehr unterschiedliche Expertisen sollen hier etwas Gemeinsames entwickeln, was häufig darauf hinausläuft, dass jede*r Projektpartner*in ihre Arbeitspakete abarbeitet und nichts miteinander integriert[5].  

Hier kann die Arbeit der ethischen Reflexion helfen und versuchen, diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Ethische Reflexion fragt danach, was richtig ist, nicht nur danach, was machbar ist. Das Ergebnis einer ethischen Reflexion ist nicht zwangsläufig etwas, das man dann umsetzt sondern könnte auch darauf hinauslaufen etwas zu lassen. So könnten beispielsweise politische und wirtschaftliche Maßnahmen, um der Klimakrise entgegenzuwirken, durch den Einbezug von Verantwortlichkeit und intergenerationaler Gerechtigkeit eine Stärkung erfahren. Im politischen Bereich kann ethische Reflexion gestalterische Energien wecken. Statt unzufrieden „gegen die da oben“ zu schimpfen, könnte mehr ethische Reflexion dazu dienen politischen Protest in konkrete Handlungszusammenhänge zu stellen und selbstreflexiv einzuordnen.

Gerade weil ethische Reflexion bestehende Selbstverständlichkeiten irritiert,[6] ist sie häufig provozierend aber dadurch auch in der Lage, in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen eine Orientierung zu bieten. Das heißt, dass auch technische Entwicklungen dahingehend geprüft werden können, welche Folgen sie für die Gesellschaft als Ganzes haben (Technikfolgeabschätzung), um dadurch ein begründetes Argument zu gewinnen, ob es sinnvoll ist diese Technik überhaupt zu entwickeln. Was also häufig als eine hinderliche Problematisierung angesehen wird, ist der Versuch Entwicklungslinien zu bestimmen, die zu einem besseren Leben und einer besseren Gesellschaft beitragen. Angesichts der sich weiter verschärfenden Krisen und dem damit verbundenen resignativen Unmut vieler Menschen sollte die Forderung für ein nachdenklich generiertes Orientierungswissen wieder an Nachdruck gewinnen, gerade weil es immer schwieriger wird! Das kann in der Wissenschaft dadurch gelingen, dass die Fähigkeit zur ethischen Reflexion in allen wissenschaftlichen Disziplinen sowie im Studium gefördert wird.

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Hinweis: Der Artikel wurde bereits im Dezember verfasst, wo es kaum öffentlich wahrnehmbaren politischen Protest gab. Die massenhaften und flächendeckenden Proteste gegen die AfD und Rechtsradikalismus in den letzten Tagen zeigen dagegen eindrücklich, welche politischen Energien mobilisiert werden können, wenn Menschen über ethische Reflexionen merken, welches Unrecht mit dieser Politik einhergeht.

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Literatur:

[1] Ammicht Quinn, Regina (2003). Vom Leben für andere: Frauenfragen als Beziehungsfragen? In: Familienbilder. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

[2] Mittelstraß, Jürgen (1989): Der Flug der Eule. Von der Vernunft der Wissenschaft und der Aufgabe der Philosophie. Suhrkamp Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main.

[3]Stichweh, Rudolf (1984): Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main.

[4] Mittelstraß, Jürgen (2003): Transdisziplinarität - wissenschaftliche Zukunft und institutionelle Wirklichkeit. Konstanz: UVK, Univ.-Verl. Konstanz.

[5] Spindler, Mone (2017): Wie sich „nicht-technische“ Aspekte vermutlich nicht in die Technikentwicklung „integrieren“ lassen – Eine Bildergeschichte. In: Cordula Brand, Jessica Heesen, et. al. (Hg.): Ethik der Kulturen – Kulturen der Ethik. Eine Festschrift für Regina Ammicht Quinn. Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen.

[6] Ammicht Quinn, Regina (2017): Verantwortung als Irritation: Ethische Überlegungen. In: Christopher Daase, Julian Junk, Stefan Kroll und Valentin Rauer (Hg.): Politik und Verantwortung: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, S. 106–122.

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