Seit der Übernahme der Assistenzvertretung in Tübingen forsche ich an meinem Dissertationsprojekt über Senecas Briefe.
Senecas philosophische Schriften haben eine ganz eigene Form und Gestaltung. Sie heben sich von vielen wesentlich systematischer aufgebauten Werken anderer philosophischer Autoren vor allem durch die Anwendung psychagogischer Techniken ab (erforscht z.B. durch Rabbow, H. Cancik, Maurach).
Nun ist längst beobachtet worden, dass Seneca in seinen Briefen - insbesondere in den ersten 3 Büchern - erstaunlich freizügig epikureisches Gedankengut rezipiert und durchaus anerkennend verwendet. Das steht in seltsamem Gegensatz dazu, dass er sich durchweg zur Stoa bekennt, die von der Tradition her dem Epikureismus entgegengesetzt ist wie Feuer dem Wasser. Ich möchte erforschen, ob und inwieweit diese Epikurrezeption biographisch oder aus dem Zeitgeist (Stichwort "Synkretismus") zu erklären ist oder ob vielmehr rhetorisch-persuasive Ziele das eigentliche Motiv darstellen. Ich vermute, dass letzteres der Fall ist und dass sich die Briefe zwar als Werbeschrift für die Stoa verstehen lassen, jedoch im Gegensatz zur stoischen Tradition nicht "mit offenem Visier kämpfend" auftreten, sondern im Sinne einer der Schwäche der menschlichen Psyche Rechnung tragenden Psychagogik den Kampf eher im Sinne einer "schleichenden Übernahme" betreiben. Dazu untersuche ich, inwiefern sich Senecas Äußerungen zu gleichen philosophischen Themengebieten im Laufe des Epistelwerkes verändern und wie sich diese Änderungen psychologisch aus der intendierten Beeinflussung des Lesers (der keineswegs mit dem historischen Lucilius identisch sein muss) erklären lassen.