Das Geographische Institut

Das Geographische Institut war seit seiner Gründung im Jahre 1899 bereits an mehreren Standorten in Tübingen angesiedelt (vgl. Abb. 1). In Bezug auf die Involvierung des Geographischen Instituts in den deutschen Kolonialismus sind, unter Berücksichtigung des zeitlichen Kontexts, jedoch vor allem die Standorte „Alte Bursa“ sowie das „Schloss Hohentübingen“ hervorzuheben.

Die Geographie in Tübingen
Die Gründung des zweiten deutschen Reiches 1871 löste an vielen deutschen Universitäten eine signifikante Expansion der Geographie als wissenschaftliche Disziplin aus, welche von einer Einrichtungswelle außerordentlicher geographischer Lehrstühle begleitet wurde, um somit dem „neuen politischen wie auch wirtschaftlichen Selbstverständnis Deutschlands als europäische Großmacht mit kolonialen wie imperialen Interessen“ (Ehlers 2000: 3) zu entsprechen. In Tübingen erfolgte die Einrichtung des geographischen Lehrstuhls im Jahr 1897 und mündete 1899 in der Begründung des geographischen Instituts unter der Leitung des planmäßigen Extraordinarius Alfred Hettner. Die ersten 50 Jahre seines Bestehens – welche in Hinblick auf die koloniale Vergangenheit des Instituts die relevanteste Zeitspanne darstellt – wurden maßgeblich durch fünf gesamtgeographische Lehrstuhlinhaber bestimmt (vgl. Abb. 2), deren Gesamtwirkzeit in drei übergeordnete Ären untergliedert werden kann: (1) Die geographische Findungsphase 1897-1910; (2) die Phase der Kolonialgeographie und des Auslanddeutschtums 1910-1945 sowie (3) die Phase der geographischen Neuorientierung nach 1945

(1) Die geographische Findungsphase 1897-1910

Auch wenn der emeritierte Tübinger Geographieprofessor Eckart Ehlers die Geographie in Tübingen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eher mit der Institutionalisierung und Profilierung vor Ort beschäftigt sieht, als sich mit Forschungsfeldern jenseits lokaler Kontexte zu befassen (2000: 8), hebt der Tübinger Geschichtswissenschaftler Mario Daniels hervor, dass der vierte Geographie-Lehrstuhlinhaber Carl Uhlig – welchen er als echten Kolonialgeographen einstuft (2009: 193ff) – „eine Tradition des noch jungen planmäßigen Extraordinariats fort[führte]“ (2009: 194). Hierbei bezieht sich Daniels auf die Lehrtätigkeiten von Uhligs Vorgängern, wie beispielsweise Lehrstuhlgründer Alfred Hettner, welcher Vorlesungen über „deutsche Kolonien“ und „europäische Kolonialreiche“ abhielt, die unter den Studierenden regen Zuspruch fanden (Ehlers 2000: 194; Gräbel 2021: 504). Auch Hettners Lehrstuhlnachfolger Kurt Hassert (ab 1899) führte diesen kolonialgeographischen Schwerpunkt fort (Gräbel 2021: 504). Er verfasste unmittelbar vor seinem Wechsel nach Tübingen eine populäre Landeskunde über die deutschen Kolonien (Gräbel 2021: 504). Nicht zuletzt blieb auch Hasserts Nachfolger Karl Sapper (ab 1902) der jungen Tübinger Kolonialtradition treu und ergänzte sie mit völkerkundlichen Themen. Berücksichtigt man die Berechnung Uhligs, dass zwischen 1898 und 1910 etwa „2½ % aller Vorlesungen an deutschen Universitäten der Kolonialgeographie gewidmet war[en], lag Tübingen mit seinem Angebot weit über dem Durchschnitt“ (Daniels 2009: 195).

(2) Die Kolonialgeographie und das Auslanddeutschtum 1910-1945
Dass das Jahr 1910 einen Wendepunkt in der historischen Betrachtung der Tübinger Geographie darstellt, ist maßgeblich mit der Ernennung Carl Uhligs zum neuen ordentlichen Lehrstuhlinhaber verknüpft. Insgesamt wird er für die nächsten 28 Jahre die Entwicklung des geographischen Lehrstuhls bis in die NS-Zeit hinein entscheidend mitprägen. Bildungsbürgerliche Populärwissenschaften, welche bis dato in geographischen Gesellschaften oder Verlagen beheimatet waren, wurden universitäre Disziplinen, was zur Folge hatte, dass sich die traditionelle Trennung aus „Forschungsreisenden und kartographisch ausgebildeten Lehnstuhlgeografen“ (Gräbel 2021: 504) an den Universitäten auflöste. Um sich nun als Kenner eines Raumes zu profilieren, war es zwingend notwendig, diesen auch bereist und erforscht zu haben. Carl Uhlig, welcher in der Zeit vor seiner Professur Vorstand des deutsch-ostafrikanischen Landwetterdienstes (1900-1906) mit Hauptsitz in Daressalam im heutigen Tansania war und dort nebenbei intensive Forschung im Bereich der Landesaufnahme betrieb (Daniels 2009: 193), passte daher gut ins neu geschaffene Anforderungsprofil eines neuen geographischen Lehrstuhlinhabers. Schließlich wurde Uhlig gegenüber seinen Mitbewerbern als ehemaliger Kolonialbeamter bevorzugt (Gräbel 2021: 505). Diese Entscheidung war ebenfalls ganz im Sinne des Senats, welcher davon ausging, dass die Universität in den kommenden Jahren mit Nachdruck die Vertretung der Kolonialgeographie in Tübingen fördere (Gräbel 2021: 505). Uhlig führt folglich den kolonialgeographischen Fokus fort und begründet die Beschäftigung mit deutschen Kolonien als Ausdruck eines „berechtigten nationalen Egoismus“ (Daniels 2009: 196). Nach dem Esten Welkrieg und der im Versailler Vertrag vereinbarten Abtretung aller deutschen Kolonien folgt eine Hinwendung zur Auslandkunde und des Auslanddeutschtums obwohl er „keinen Hehl daraus [machte], daß er die koloniale Enteignung des Deutschen Reiches (...) revidiert sehen wollte“ (Daniels 2009: 200). Seine Leitwissenschaft der Auslandskunde vereint „völkische Ideologie und kontinentale Expansionsgelüste mit Kolonialgeographie und kolonial-revisionistischer Erinnerungspolitik“ (Gräbel 2020).
Im Jahr 1937 löste Hermann von Wissmann – Sohn des ehemaligen Ostafrika-Gouverneurs des wilhelminischen Deutschlands – den emeritierenden Uhlig als gesamtgeographischen Lehrstuhlinhaber in Tübingen ab. In Hinblick auf Tatsache, dass die Universität von ihm die „intensive Pflege aller kolonial-geographischen und kolonialpolitischen Probleme“ sowie die „Fortführung der Kooperation mit dem Deutschen Auslandsinstitut in Stuttgart“ erwartete (Gräbel 2021: 506), kann sein bekannter Name – gepaart mit „gute[n] Kenntnisse[n] des Auslanddeutschtums, der Kolonialfragen und der überseeischen Länder“ (Gräbel 2021: 506) – sicherlich als dienlich eingestuft werden. Durch die universitären Einstellungsvorgaben sieht Gräbel die Universität mitverantwortlich, „dass sich die Ära der Kolonialgeografie über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinaus bis in die Nachkriegszeit fortsetzte“ (Gräbel 2021: 506).

(3) Geographische Neuorientierung nach 1945

Auch wenn es prominente Beispiele personeller Kontinuitäten an deutschen Universitäten gibt, welche ihre NS-Jargon bereinigten Forschungen erfolgreich neu vermarkteten – ein Beispiel hierfür bildet der 1951 als Professor für Überseekunde an die Universität Tübingen zurückkehrende Wahrhold Drascher – scheint die Geographie unter Hermann von Wissmann, welcher in den universitären politischen Säuberungsverfahren der französischen Militärregierung als „entlastet“ eingestuft wurde (UAT 117C/502), sich endgültig der Auslandkunde entzogen zu haben. Wie aus den geographischen Nachkriegsvorlesungen  hervorgeht, ist die Forschungsrichtung des Geographischen Instituts nach dem zweiten Weltkrieg maßgeblich von einer „auf Landes- und Länderkunde ausgerichtete[n] regionale[n] Geographie“ (Ehlers 2000: 17) bestimmt.

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