Institute for Eastern European History and Area Studies

Exkursion nach Warschau, Krakau und Lemberg im Sept./Okt. 2005

Exkursionsbericht

(von Jannis Panagiotidis)

Dramatis personae:
Dietrich Beyrau, Nora Bierich, Daniela Breitenberger, Ulrich Dönnges, Katrin Graß, Anne-Marie Groener, Julia Groß, Mark Keck, Thomas Kisser, Isabell Kmen, Antonia Knapp, Ulrike Lunow, Kathrin Obergfell, Jannis Panagiotidis, Philipp Riethmüller, Marie-Theres von Schickfus, Alexander Siebert, Patrick Switajski, Gosia Szajbel, Katharina Uhl.
Coach: Ingrid Schierle

1. Tag (25.9.05), Stuttgart-Warschau

Früher war die Vorstellung einer Exkursion verbunden mit langen Bus- bzw. Zugfahrten, die einen nach vielen Stunden, in denen sich die Gruppe kennen lernen konnte, zum weit entfernt liegenden Ziel bringen sollte. Im Zeitalter der Billigfluglinien ist diese u.U. erfreuliche Strapaze nicht mehr nötig, zumindest nicht, wenn man nach Polen reisen möchte. Eine bekannte deutsche Billigfluggesellschaft, deren Flugzeuge nicht wie Taxis aussehen, brachte uns für einen sehr akzeptablen Preis von Stuttgart nach Warschau und nach zwei Wochen von Krakau zum Ausgangspunkt der Reise, dem Flughafen Echterdingen, zurück. Dauer des ganzen: jeweils bescheidene anderthalb Stunden. Kaum Zeit also, für ausgiebige Kennenlernrunden, bei denen man zur Vorbereitung schon das eine oder andere landestypische Getränk hätte konsumieren können. Aber zum Kennenlernen hatte es ja schon die vorbereitende Übung im Sommersemester gegeben. Und am Abend der Ankunft ist man ausgeruht genug, um schon ein wenig den Zielort bei Nacht zu erkunden, nachdem man während es Fluges bereits das Land aus der Vogelperspektive betrachten konnte.

2.Tag (26.9.05), Warschau

Am ersten ganzen Tag in Warschau stand ein Besuch im Jüdischen Historischen Institut auf dem Programm, in welchem wir vom Leiter, Prof. Feliks Tych, und einem deutschen Mitarbeiter, Jürgen Hensel, empfangen wurden. Das JHI wurde bereits in den vierziger Jahren gegründet und war das einzige seiner Art im Ostblock. Heute beherbergt es umfangreiches Material zur jüdischen Geschichte in Polen, darunter auch das Untergrundarchiv, das Emanuel Ringelblum im Warschauer Ghetto anlegte. Im ersten Stock befinden sich eine Ausstellung zur Geschichte des Warschauer Ghettos, sowie eine Leinwand, in der man einen beeindruckenden Film zum selben Thema sehen kann. Das Schweigen im Raum nach Ende der Vorführung gehörte sicher zu den eindrucksvollsten Momenten der Exkursion.
In der Folge wurden wir von Dr. Hensel noch in sehr kompetenter Weise entlang des „Pfads der Erinnerung“ durch das ehemalige Warschauer Ghetto geführt. Er führt u.a. zum bekannten Denkmal des Ghetto-Aufstandes, vor welchem Willy Brandt 1970 kniete (für den „Kniefall“ gibt es auf demselben Platz inzwischen auch ein Denkmal), und endet am „Umschlagplatz“, von dem die Bewohner des Ghettos nach Treblinka deportiert wurden. An diese Ereignisse wird in bemerkenswerter Weise gedacht: hinter der Mauer, welche das eigentliche Denkmal von der Straße abschirmt, befindet sich eine Wand, auf der zahllose polnische und jüdische Vornamen eingemeißelt sind. So wird den Opfern ihre Anonymität genommen, obwohl man sie ob ihrer Masse nicht alle einzeln aufzählen kann.
Der Nachmittag brachte einen Besuch im Deutschen Historischen Institut, wo uns der Leiter, Prof. Ziemer, und ein Mitarbeiter, Martin Kohlrausch, empfingen. Eindruck hinterließen das alte denkmalgeschützte Gebäude, in dem sich das Institut befindet, und die hervorragend sortierte Bibliothek, deren Zeitschriftensammlung Periodika wie die „Zeitschrift für die Regionalgeschichte des Bodensees“ enthält. Vom DHI aus marschierten wir dann entlang des sogenannten „Königswegs“ in Richtung Altstadt (Stare Miasto). Hier liegen friedlich Seit an Seit jugendliche Cafés, zahlreiche Denkmäler, Kirchen und ehrwürdige Gebäude, wie die Warschauer Universität. Am Ende (respektive Anfang) des Weges befindet sich der Plac Zamkowy mit dem Königsschloss. Von dort gelangt man in die eigentliche Altstadt, in deren Kern sich der große und belebte Marktplatz befindet, der von farbenfrohen Häusern gesäumt wird. Kaum zu glauben, dass diese Stadt im Zweiten Weltkrieg von den deutschen Okkupanten fast komplett zerstört wurde. Die Altstadt wurde originalgetreu rekonstruiert, ähnlich wie in Dresden im Elbviertel. Und auch außerhalb der Altstadt ist der Wiederaufbau durchaus gelungen und hat wenig mit realsozialistischer Betonromantik zu tun. Warschau ist alles, außer hässlich.

3. Tag (27.9.05), Warschau

Am zweiten und letzten Tag in Warschau besuchten wir das neu geschaffene Museum des Warschauer Aufstandes (im Internet unter www.1944.pl). Hier empfingen uns zwei Koryphäen der polnischen Historiographie, Wlodzimierz Borodziej und Robert Traba, mit denen wir nach dem Rundgang durch die Ausstellung eine sehr ergiebige Diskussion hatten. Das Museum ist von seiner Gestaltung her sehr modern, soll heißen: man kann und soll mit allen Sinnen erleben. Schon von außen hört man buchstäblich das Donnern der Kanonen, welches die passende Atmosphäre zum Nachvollziehen der Ereignisse schaffen soll. Ob man dies als atmosphärisch, pädagogisch sinnvoll oder effekthascherisch empfindet, ist wohl vom persönlichen Geschmack abhängig. Interessant ist jedoch das Geschichtsbild, das in diesem Museum vermittelt wird. Dem „romantischen“ Freiheitsstreben der Aufständischen wird ein Denkmal gesetzt und dem „verräterischen“ Tun der polnischen Kommunisten gegenübergestellt, welche als Handlanger Stalins denunziert werden. Die Rote Armee wird nur noch in Anführungszeichen als „liberator“ bezeichnet. Dies mag eine verständliche Reaktion auf die Unterdrückung des Aufstandsgedenkens in der sozialistischen Zeit sein; ob es zur Ausbildung eines ausgewogenen Geschichtsbildes beiträgt, sei allerdings dahingestellt. Erwähnenswert ist, dass hier auch versucht wird, die Opfer des Aufstandes aus der Anonymität zu holen: hinter dem Museum befindet sich eine lange Mauer, auf der die Namen der Gefallenen eingemeißelt werden. Ob die Ähnlichkeit mit dem Vietnam Memorial in Washington DC beabsichtigt ist, kann man nur vermuten.Nach der medial vermittelten Geschichte des Aufstandsmuseums gab es auch noch reale Zeugnisse der Historie zu bestaunen. In der Ulica Prózna sind die letzten originalen Häuser aus dem Warschauer Ghetto erhalten. Diese Straße liegt in der Nähe des „Palastes der Kultur und Wissenschaften“, welcher den Polen in den fünfziger Jahren von der Sowjetunion „geschenkt“ wurde. Er ist ein gewaltiger Turm, dessen Architektur in etwa eine Mischung aus dem Empire State Building und Big Ben darstellt. Von den Warschauern wurde er einst statt „Palac Stalina“, Stalinpalast, als „Palec Stalina“, Finger Stalins bezeichnet, den er symbolisch gegenüber den Polen erhebt. Das Gebäude ist inzwischen umgeben von vielen neuen Hochhäusern, welche der Stadt von internationalen Konzernen „geschenkt“ werden.Von der Aussichtsplattform bekommt man einen Eindruck der Bauaktivität, welche der „Boomtown“ Warschau ein neues, verglastes Antlitz geben wird, ähnlich dem von Frankfurt am Main. In der Ferne, auf dem anderen Weichselufer, sieht man hingegen noch die Hinterlassenschaft der Vergangenheit, die Wohnsiedlungen der Trabantenstädte. Es haben hier wohl nicht alle am überall sichtbaren Aufschwung teil. Auch die bescheidenen 40% Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen am Sonntag zuvor lassen dies vermuten.

4. Tag (28.9.05): Warschau-Przemysl-Lemberg

Um nicht gänzlich auf lange Reisen über Land verzichten zu müssen, ging es am nächsten Tag mit dem Zug nach Przemysl und von dort mit dem Bus weiter nach Lemberg. Przemysl liegt unweit der ukrainischen Grenze, gewissermaßen am Ende unserer europäischen Welt. Die Stadt ist Ort einer ehemaligen Festung, welche die Österreicher dort vor dem Ersten Weltkrieg mit viel Aufwand erbauten, nur um sie wegen der drohenden Eroberung durch die russische Armee wieder zu zerstören. Auf dem Hügel, auf welchem sie sich befand, steht heute ein riesiges Denkmal. An den Hängen befinden sich Soldatenfriedhöfe für gefallene Polen, Russen, Österreicher, Deutsche. Zumindest im Tod herrscht hier friedliche Koexistenz.
In der Stadt selber beeindrucken drei dicht nebeneinander gebaute Riesenkirchen, die uns von unserem sehr amüsanten Stadtführer Stanislaw nähergebracht wurden. Im nahebei gelegenen Südost-Institut wurden wir dann mit einem Vortrag über polnisch-ukrainische Beziehungen auf unser nächstes Reiseziel vorbereitet. Nach Darstellung des Referenten, Herrn Professor Stepien, waren diese Beziehungen in Przemysl selber recht friedlich, was sich in vielen Mischehen äußerte. Selbst in der Zeit der erbitterten Kämpfe des Jahres 1918 sei hier nur pro forma gekämpft worden. Heute allerdings gibt es nur noch wenige Ukrainer in der Stadt, sie wurden großenteils in die nach dem Zweiten Weltkrieg zu besiedelnden Gebiete im Westen geschickt.
Unser Stadtführer hatte uns die polnisch-ukrainische Grenze bereits als Attraktion für sich angekündigt, was sich auch bestätigen sollte. Wir hatten während des Wartens reichlich Zeit, die langen Schlangen vor allem ukrainischer Autos zu bewundern, die voll bepackt mit „Westgütern“ auf die Rückreise in die Heimat warteten. Nicht schwer zu erraten, dass hier auch der Schmuggel blüht. Kaum hat man die Grenze überschritten, wird es finster. Während auf polnischer Seite noch Straßenlaternen den Weg säumten, liegt über der holprigen Landstraße, die von der Grenze nach Lemberg führt, des Nachts der Schleier der Dunkelheit. Lemberg selber ist auch nicht viel besser beleuchtet; dass wir ankommen merken wir nur durch den harten Schlag, den es tut, als der Bus mit hohem Tempo auf dem in der Stadt dominierenden Kopfsteinpflaster „aufschlägt“. Bei Ankunft ist es weit nach Mitternacht. Glücklicherweise hat die Rezeption des Hotels „Dnister“ rund um die Uhr geöffnet...

5. Tag (29.9.05), Lemberg

Die Stadt der vielen Namen (Lemberg, L’viv, Lwów, L’vov, Leopolis) wurde uns an unserem ersten Tag dort von Dr. Vasyl Rasevyc nähergebracht, der sich auch in den folgenden Tagen fachkundig und immer freundlich um uns kümmern sollte. Die Stadtführung begann nicht mit den klassischen Besucherzielen in der Altstadt, sondern führte durch die umliegenden Straßenzüge. Auch dort gibt es genug einigermaßen gut erhaltene k.u.k. Architektur zu bestaunen. Es heißt, dass es in Lemberg keine zwei gleichen Balkons gäbe, und man mag es glauben, so groß ist die Vielfalt an verschnörkelten Geländern, schmiedeeisern und aus Stein. Ähnlich divers die Eingangstore und -türen, die Fassaden, die Laternen.Von architektonischer Vielfalt allein können die Bewohner aber nicht leben, und darum verringert sich die Bevölkerung der Stadt stetig. Jobs sind Mangelware und schlecht bezahlt.
Das Leben auf der Straße ist aber sehr lebendig; viele Menschen sind unterwegs, es gibt viele kleine Händler, Bäuerinnen, die ihr Gemüse verkaufen. Der Verkehr ist leicht chaotisch, Fußgängerampeln gibt es nicht. Und die ukrainischen Autofahrer lassen sich auch vom Kopfsteinpflaster nicht vom Rasen abhalten. So wird jede Straßenüberquerung zum Sprinttraining.
In einer sehr alten Straßenbahn fuhren wir zur Katholischen Universität. Katholisch bedeutet hier: griechisch-katholisch, was nichts, aber auch gar nichts mit Griechen und Griechenland zu tun hat, wie uns Prof. Oleh Turij in seinem Vortrag versicherte. In exzellentem Deutsch referierte er uns über die griechisch-katholische (=unierte) Kirche, welche in der Sowjetzeit nur im Untergrund existieren konnte. Sie vereine durch ihre Anerkennung des Papstes unter Beibehaltung des östlichen Ritus das Beste beider Seiten und zeichne sich durch ihre Offenheit und Toleranz aus. Auch über die Situation seiner Hochschule referierte er, welche vom Staat praktisch keine Unterstützung erhalte. Die Finanzierung laufe über Studiengebühren und Fundraising, in Sachen dessen er viel unterwegs sei. Wenn er auf den entsprechenden Veranstaltungen ähnlich sympathische Vorträge hält, sollte der Erfolg garantiert sein.
Im Anschluss ging es noch ein bisschen durch die Altstadt, in welcher wir die fast 650 Jahre alte armenische Kathedrale besichtigten. Der Besuch der St. Georgskathedrale fiel der späten Stunde und dem schlechten Wetter zum Opfer (dieser und der nächste sollten aber die einzigen Regentage bleiben). Wer am Sonntag nicht den Gottesdienst besuchte, sollte sie leider gar nicht mehr zu Gesicht kriegen.

6. Tag (30.9.05), Lemberg

Am sechsten Exkursionstag standen Besuche in zwei Bildungseinrichtungen auf dem Programm. Am Vormittag waren zwei Spezialschulen für deutsche Sprache das Ziel, am Nachmittag die Ivan Franko Universität. In den Schulen wurden wir von deutschen Lehrern, die dort unterrichten, empfangen, und wurden von Schülern der Deutschklassen durch die Schulen geführt. Nett sind sie, die ukrainischen Schüler, und ungemein brav dazu. Andernfalls wären die ukrainischen Lehrer, welche im Schnitt monatlich um die 50 US-Dollar verdienen, sicher nicht so fröhlich, wie sie uns gegenüber auftraten.
An der Ivan Franko Universität lauschten wir einem Vortrag über die „Orangene Revolution“ in der Ukraine. Der Referent hatte die bemerkenswerte Gabe, auf jede ihm gestellte Frage gezielt und präzise zu antworten. So erfuhren wir einige interessanten Facetten der politischen Situation in der Ukraine, z.B. die Verschiebung der innerukrainischen „Bruchlinie“ seit 1991, die sich der neue Präsident Jušcenko zu nutzen machen konnte. Die Nachwirkungen der orangenen Revolution sind auch noch in der Stadt zu sehen: in fast jedem Geschäft, in das man geht, hängt ein „Revolutionskalender“ oder irgendein anderes orangenes Symbol (mit deren Vermarktung sich Jušcenko Junior eine goldene Nase verdient, wie wir vor Monaten aus der Zeitung erfuhren). Kein Wunder: in Lemberg hatten in der dritten Runde der Präsidentschaftswahl, welche als offiziell anerkannt wurde, 94% der Wähler für den prowestlichen Kandidaten gestimmt. Abends, beim Biertrinken vor dem Ševcenko-Denkmal in der Innenstadt, konnte man aber auch andere Stimmen hören: eine ältere Dame, die dort Flaschen einsammelte, um mit dem Pfand ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, klagte ihr Leid. Das Polytechnikum habe sie beendet, und jetzt sammele sie Flaschen ein. Unter der neuen Regierung sei alles noch viel schlechter geworden. Es gibt augenscheinlich in Lemberg nicht wenige Leute, denen es unter egal welcher Regierung so schnell nicht besser gehen wird.

7. Tag (1.10.05), Lemberg-Žovkva-Lemberg

An diesem Tag sollten wir auch mal das Lemberger Umland bei Tag zu Gesicht bekommen. Bevor es allerdings auf die Reise in den nahegelegenen Ort Žovkva und zu einem Basilianerkloster gehen sollte, stand der Besuch des einstigen Ossolineum (heute Stefanyk-Bibliothek) auf dem Programm. Auf dem Fußmarsch dorthin kamen wir an einer besonders kuriosen Straße vorbei, der „Vulica Dudaeva“, benannt nach dem tschetschenischen Rebellenführer Džochar Dudaev, der 1996 von der russischen Armee getötet wurde. Hier lassen sich wohl gerne russische Touristen unter dem Straßenschild ablichten. Bleibt die Frage, ob es wohl irgendwo in, sagen wir, Mexiko eine „Osama Bin Laden“ Straße gibt...
In der Stefanyk-Bibliothek sieht man deutlich die Millionen Dollars, die hier von kanadischen und amerikanischen Exilukrainern investiert wurden. Keine Spur von Verfall, kein Putz, der von den Wänden bröckelt. Alles neu bzw. restauriert, eine wohlsortierte Bibliothek, reichlich Arbeitsplätze in den Lesesälen. Unsere Gruppe kam in den besonderen Genuss, die Handschriftenabteilung bewundern zu dürfen. Das Lemberger Ossolineum war einst die bedeutendste polnische Bibliothek und verfügt noch immer über wertvolle Manuskripte, von denen wir uns manche ansehen durften. Sogar gegen das Fotografieren mit Blitzlicht hatte die Archivarin nichts einzuwenden, was den Liebhabern der Digitalkamera, von denen es auf der Exkursion einige gab, sehr entgegen kam.
Weiter ging es mit dem Bus in das Städtchen Žovkva. Auf dem Weg dorthin kamen wir durch einige kleine Städte bzw. Dörfer, die alle eins gemeinsam hatten: egal wie klein und verfallen die Häuser auch waren, eine riesige und prächtige Kirche durfte nirgendwo fehlen. Und oft nicht nur eine, denn die Region war mal multireligiöser, als sie es jetzt ist. In Žovkva selber besichtigten wir auch das Innere einer solchen Kirche. Bemerkenswert die Verquickung von Religion und Nationalismus: die Mutter Gottes ist mit ukrainischer Nationaltracht abgebildet, und die Wandmalereien bildeten neben Heiligen auch ukrainische Nationalhelden ab. Diese Werke wurden in sowjetischer Zeit teilweise zerstört. Anders die mächtige Synagoge der Stadt: sie wurde, nachdem die Deutschen sie im Zweiten Weltkrieg abgebrannt hatten, in der Sowjetzeit wieder aufgebaut, wovon heute aber nicht mehr viel zu sehen ist. Das einstmals sicher prachtvolle Gebäude ist heute, nun ja, baufällig.Das nahegelegene Basilianerkloster befindet sich wunderschön am Rande des nun herbstlichen galizischen Waldes, dessen Bäume intensiv gelbe Blätter tragen. Ruhig ist es, anders als in Lemberg, anders auch als in Žovkva, wo auf dem zentralen Platz eine Minikirmes tschechischer Schausteller die Stadt mit Hitparadenklängen beschallte, und außerdem kleine ukrainische Kinder in der ebenerdigen „Achterbahn“ um Hilfe schrieen. Im Kloster führte uns ein Novize in die Geheimnisse des Klosterlebens ein. Er berichtete uns von seinem Tagesablauf, welcher dank der recht liberalen Regeln des Ordens einigermaßen erträglich klang. Allerdings bedauerte die Damenwelt die Entscheidung des schmucken jungen Mönches, sein Leben hinter Klostermauern zu verbringen...
Hervorzuheben ist der abendliche Besuch in einem hervorragenden Lokal in der Nähe des Ossolineum. Im Ambiente eines Wohnzimmers der zwanziger Jahre verzehrt man dort köstliche Speisen, und das alles für, gemessen an deutschen Maßstäben, sehr günstige Preise. Es versteht sich, dass dies für die meisten Lemberger unerschwinglich sein dürfte.

8. Tag (2.10.05), Lemberg

Da wir nun so viele Tage in Lemberg zubrachten, durfte auch ein Besuch des Lycakiv-Friedhofes nicht fehlen, über den Christoph Mick, der geistige Vater dieser Exkursion, so ausführlich gearbeitet hat. Hier liegen polnische wie ukrainische „Verteidiger Lembergs“ begraben, ebenso wie viele andere prominente und weniger prominente Bewohner der Stadt. Unter im Herbst scharf schießenden Kastanienbäumen hindurch wandelt man über die Friedhofsanlage zu der gewaltigen Gedenkstätte für die polnischen „Adler“, die die Stadt 1918 gegen die Ukrainer „verteidigt“ hatten. Diese wiederum verehren nebenan ihre eigenen Toten, welche natürlich ebenfalls ihre Stadt verteidigt hatten – gegen die Polen. Das Resultat sind mächtige Denkmäler in Stein, an denen an diesem Tag vor allem polnische Delegationen Kränze niederlegten. Hier wird Totengedenken wahrhaftig noch zelebriert.
Den letzten Nachmittag in Lemberg ließen wir gemütlich ausklingen, erst mit einem Besuch auf dem Hügel der Lubliner Union beim Hohen Schloss, von dem aus man einen tollen Blick über die Stadt hat, dann mit einem gemütlichen Marsch durch das alte jüdische Viertel, von dem leider nicht mehr viel zu sehen ist. Das sonnige galizische Herbstwetter machte diesen Spaziergang jedenfalls sehr angenehm.
Des Abends gab es dann noch Lemberger öffentliches Leben zu bewundern. Vor dem Ševcenko-Denkmal in der Innenstadt hatten sich Dutzende Menschen versammelt, welche etwa drei Stunden lang ausdauernd und sehr wohlklingend sangen. Im Hintergrund wurde mit lauter Musik eine Hochzeit gefeiert, viele Menschen flanierten an diesem Sonntagabend durch die Stadt, oder saßen einfach nur gemütlich im Freien. Dazwischen die schon erwähnten alten oder auch nicht so alten Menschen, die die leeren Bierflaschen einsammeln und einen dabei in der Manier eines Kellners beäugen, der einen gerne noch zu einer weiteren Bestellung nötigen würde. Zur Abrundung gab es noch ein sehr lautes Feuerwerk, welches in etwa die Geräuschkulisse der längst vergangenen Kämpfe um Lemberg nachvollziehbar machte. So verabschiedete sich diese besondere Stadt mit der wechselhaften Geschichte und den vielen Namen von uns.

9. Tag (3.10.05), Lemberg-Krakau

Am Tag der Deutschen Einheit verließen wir die Ukrainer wieder, sehr zur Erleichterung unseres Busfahrers, Herr Ryszard Piwowarski. Nun musste er auf kein Kopfsteinpflaster mehr Rücksicht nehmen und konnte ungehemmt drauflos brettern, um vor jedem Hindernis im letzten Moment eine Vollbremsung hinzulegen. In der Ukraine fuhr er noch sehr vorsichtig, weswegen man in aller Ruhe aus dem Fenster heraus die gelbliche, verdörrt wirkende ostgalizische Landschaft ein letztes Mal bewundern konnte. Die „Festung Europa“ hielt uns auch gar nicht so lange an der Grenze auf, wie wir befürchtet hatten. Für den drei Uhr Termin in Krakau reichte es allerdings trotzdem nicht.
Nach einer trotz Pan Ryszards Fahrkünsten angenehmen Fahrt mit Tabu und Skat erreichten wir schließlich die alte polnische Königsstadt, welche uns mit Weichsel- und Wawelpanorama empfing. In Krakau, welches voll auf Touristen eingestellt ist, versteht man es, seine Attraktionen in Szene zu setzen: im Dunkeln ist alles angestrahlt, der Wawel wie die Marienkirche oder auch die Tuchhallen, was der Altstadt am Abend ein ganz besonderes Flair gibt.
Ohne Pause ging es weiter zu einem Treffen mit einem studentischen „Club“ der historischen Fakultät. Dieser Club hat eine Tradition bis ins 19. Jahrhundert, was an eine Burschenschaft erinnert. Die Studenten, die uns empfingen, erinnerten aber eher an deutsche Fachschaftler, und ähnlich muten auch ihre Tätigkeiten an. Jedenfalls fechten sie keine Mensuren. Ihr Kellerraum, in dem sie ihr Quartier haben, ist mit Bildern des kürzlich verstorbenen Papstes und von Marschall Pilsudski geschmückt. Diese beiden dürfen, ähnlich wie der Nationaldichter Adam Mickiewicz, in keinem öffentlichen oder sonst wie repräsentativen Raum in Polen fehlen.

10. Tag (4.10.05), Krakau

Auch am Tag darauf galt es polnische Heldenverehrung zu bewundern, dieses Mal im Wawel, dem alten Königsschloss, in dem während der Zeit des deutschen „Generalgouvernements“ auch der „Gouverneur“ Hans Frank hauste (nachzulesen im Buch „Der Vater“ seines Sohnes Niklas). Nach einer interessanten Führung durch das Schloss, dessen Räume mit sehr aufwendigen, handgeknüpften Wandteppichen verziert sind, besichtigten wir noch die Kathedrale der Burg mit ihrer Krypta. In dieser sind alle polnischen Könige begraben, und auch die Nationalhelden der Teilungszeit und der II. Republik sind hier verewigt. Die Hierarchie der Helden ist bemerkenswert: Mickiewicz liegt in einer Extra-Gruft, teilt sich diese aber mit seinem Dichterkollegen Slowacki. Freiheitsheld Kosciuszko liegt zusammen dem Helden von Wien, Jan III Sobieski und dem General Sikorski in einem Raum. Nur Marschall Pilsudski hat ein „Einzelzimmer“.
Am Nachmittag trafen wir uns erneut mit Studierenden des Clubs, die uns eine ganz persönliche Stadtführung boten. Diese führte uns zielstrebig zu dem Haus, in dem Karol Wojtyla residierte, als er noch Bischof von Krakau war. Dort steht bereits seit Ende der siebziger Jahre sein Denkmal. Nicht umsonst ist auch der Krakauer Flughafen nach diesem ersten polnischen Papst benannt, der überall in Polen, aber offensichtlich besonders in seiner alten Wirkungsstätte Krakau hingebungsvoll verehrt wird. Die Stadtführung ging weiter zur prächtigen Marienkirche am Marktplatz, welche durch ihre Farbgestaltung in blau und rot und den prachtvollen Altären eine ganz besondere Atmosphäre verströmt. Aber auch hier ist eine Besichtigung unmöglich, ohne mindestens ein Dutzend Menschen beim Beten zu stören. In Polen sind unter der Woche scheinbar mehr Leute in der Kirche als in mancher deutschen Kirche im sonntäglichen Gottesdienst.
Letztes Ziel war dann der alte jüdische Vorort Kazimierz, in welchem heute wieder ein wenig das jüdische Erbe gepflegt wird, wenn auch augenscheinlich eher als touristische Folklore. Phantastisch war aber das Klezmer-Konzert des „Quartet Klezmer Trio“, welchem wir in einer Synagoge beiwohnen durften. Dieser Konzertbesuch stellte auch die angemessene Vorbereitung für das Besuchsziel des nächsten Tages dar: Auschwitz.

11. Tag (5.10.05), Krakau-Auschwitz-Krakau

Man kann nicht behaupten, dass sich jemand auf den Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau gefreut hätte. Es ist dies aber ein Ort, den man als Historiker gesehen haben sollte. Gemeinsam mit Massen von Besuchern wurden wir von einer polnischen Führerin durch das Stammlager Auschwitz geführt. Ihre Führung war ruhig, sparsam mit Worten, aber darum umso eindrucksvoller, da sie Raum für eigene Gedanken ließ. Wenn man vor den berühmten Kammern mit den Tausenden von Brillen, den unzähligen Schuhen, den Babykleidern und den Bergen von Frauenhaaren steht, dann braucht man nicht viele Worte.
Während im Stammlager durch die vielen Menschen auf engem Raum noch ein ständiges Murmeln herrscht, dominiert in Auschwitz-Birkenau, dem ungleich größeren Teil des Lagerkomplexes, die Stille. Hier war die Masse der Häftlinge in Baracken untergebracht, von denen die meisten heute nicht mehr stehen. In die noch vorhandenen kann man hineingehen – hier waren bis zu Tausend Menschen gleichzeitig untergebracht. Von den Gaskammern sind hier nur noch Trümmer übrig. Bei dem herrlichen Sonnenschein, der uns an diesem Tag verwöhnte, konnte man sich das Unvorstellbare noch schwieriger vergegenwärtigen, als sowieso schon. Vielleicht war es erst der vorbeiratternde Güterzug, der uns symbolisch die an diesem Ort geschehen Schrecken nachdrücklich in Erinnerung rief. Zuletzt war es Costa Gavras’ Verfilmung von Ralf Hochhuths „Stellvertreter“, die diese endlos ratternden Züge als Symbol für Deportation und Vernichtung institutionalisierte.

12. Tag (6.10.05), Krakau

Der letzte ganze Exkursionstag. Am Morgen eine Führung durch die Jagiellonen Universität, eine der ältesten Universitäten Europas. Unser lustig aufgelegter Guide, Herr Robert Springwald, zeigte uns die „heiligen Hallen“ seiner Uni inklusive der dort aufbewahrten „Reliquien“: Handschriften von Kopernikus, sein erster Globus, sowie Andrzej Wajdas Oscar und César sind hier zu bestaunen. Herr Springwald bemängelte, dass die deutschen Professoren keine Talare mehr tragen, das sollten wir ändern. Im Anschluss wurden wir noch durch die hochmoderne Jagiellonen Bibliothek geführt, in welcher man durchaus auch das Geld sehen kann, das hier fließt.
Zum Abschluss am Nachmittag ein Stück Industriegeschichte:das Salzbergwerk Wieliczka. Hier beweisen die Polen erneut, dass sie es verstehen, die Attraktionen ihres Landes touristisch aufzubereiten. Das Bergwerk gleicht einem unterirdischen Themenpark, mit animierten Figuren, Lichtspielen und Musik. Natürlich darf auch über hundert Meter unter der Erdoberfläche das polnische Pantheon nicht fehlen: der Papst ist hier in einer Figur aus Salzstein verewigt, die sich in einer riesigen unterirdischen Kathedrale befindet. Und sie ist nicht die einzige Kirche in diesem gewaltigen unterirdischen Komplex. Aber auch für die deutsch-polnische Freundschaft wird etwas getan: es gibt eine Statue von Goethe!

13. Tag (7.10.05), Krakau-Stuttgart

Vom Internationalen Flughafen „Johannes Paul II“ fliegen wir mit dem eingangs erwähnten Billigflieger zurück in die Heimat, im Gepäck, wie es sich für Osteuropareisende gehört, Wodka und Zigaretten. Was nehmen wir ansonsten aus Polen und der Ukraine mit? Jeder natürlich seine ganz persönlichen Eindrücke zweier faszinierender Länder, von denen wir hier einen kleinen Teil bewundern durften. Aber viele Erinnerungen teilen wir auch: der 24-Stunden-Supermarkt neben unserem Krakauer Hotel, zu dem eine eigene kostenlose Buslinie fährt. Die hervorragenden Speisen, die wir z.B. in einem Lemberger Selbstbedienungsrestaurant genießen durften – nicht umsonst zirkulierte bald der Begriff der „(Fr)esskursion“. Auch die aufopferungsvolle „Führungsarbeit“ von Vasyl Rasevyc in Lemberg wird uns allen im Gedächtnis bleiben. Die fahrerischen Fähigkeiten von Pan Ryszard, dem Busfahrer, selbstverständlich ebenfalls. Und natürlich der nimmermüde Einsatz von Frau Schierle für das Gelingen der Exkursion, durch welchen sie es schaffte, sogar die Sabotageversuche des polnischen Reisebüros, das die meisten Sachen für uns organisiert hatte (haben sollte), zur Erfolglosigkeit zu verurteilen. Wir danken!