Krisenethik im Alltag – Zeitbedingte Überlegungen zu widersprüchlichen Voraussetzungen in Katastrophenschutz und Krisenbewältigung
von Alexander Roppelt
24.01.2023 · Zu den Gewissheiten von Katastrophenschutz und -forschung gehörte bislang der Ausnahmecharakter ihres Gegenstandes. Katastrophen sind demnach seltene schockhafte Ereignisse von begrenzter Dauer. Ihr Auftreten zieht gravierende, zuweilen verheerende Folgen für Menschen und Umgebung nach sich, die noch Jahrzehnte später in Alltag und Bewusstsein nachleben können. Im Unterschied zu ihrem Nachwirken ist die akute Bedrohung von Katastrophenereignissen jedoch tendenziell flüchtig. Zwar nicht spurlos, aber doch ebenso plötzlich, wie sie zunächst über den Alltag hineingebrochen ist, kann häufig die Gefahr gebannt werden. Die Lage wurde dann bewältigt, wie es im taktischen Sprech von Behörden der Gefahrenabwehr heißt.
Die wirkliche Bewältigung der Folgen hingegen kann erst danach beginnen: Behandlung und Pflege von Verletzten, Sichtung und Reparatur von Schäden, Wiederherstellung des vormaligen Status quo soweit möglich. Spätestens im Zusammenhang mit der schrittweisen Rückkehr zu Normalität und Alltag stellt sich fast unweigerlich die Frage, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Hätte die Katastrophe zu einem vergangenen Zeitpunkt verhindert oder zumindest ihr Ausmaß gemindert werden können? Und: was lässt sich für die Zukunft in Sachen Verhinderung und Minderung unternehmen? Im besten Fall werden aus dem Unglück nicht bloß Lehren und Schlüsse gezogen, sondern zugleich Präventionsmaßnahmen ergriffen und Vorkehrungen getroffen, die beim Wiederauftreten den Unterschied machen.
Dieses Ideal, die wünschenswerte Reaktion auf ein Katastrophenereignis, setzt allerdings sowohl eine bestimmte Beziehung von Alltag und Krise, als auch deren Trennung voraus. Die Anpassung des Alltags an die Herausforderungen einer künftigen Krise erfordert vor allem Zeit – innerhalb des Alltags und jenseits der Krise. Schlüsse über die Ursachen, Bedingungen und Faktoren der Katastrophe werden nicht über Nacht gezogen. Ebenso wenig verbreiten sich Lehren daraus in dieser Geschwindigkeit zwischen unterschiedlichen Institutionen und Akteur*innen, ganz zu schweigen von ihren praktischen Implikationen. Es handelt sich um langsame, vielschichtige Prozesse mit hohem Ressourcenaufwand und unter Berücksichtigung einer Vielzahl von Beteiligten. Ihre Wirkung hängt davon ab, dass die Ereignisse, um deren Willen sie angestrengt werden, selten sind und bleiben: Ausnahmen.
Betrachtet man hingegen allein in Europa die Krisen der vergangenen drei Jahre zeichnet sich ein anderes Bild. Obwohl sich beispielsweise die Lage gegenüber dem ersten Ausbruch der COVID-19-Pandemie deutlich verändert hat, ist ihr definitives Ende noch keineswegs ausgemacht.[1] Und wenngleich die Versorgung der von am Virus erkrankten Patient*innen aktuell kaum gefährdet ist, kann von einer Entspannung der Situation für die Beschäftigten im Krankenhaus weiterhin keine Rede sein. Schließlich gehört es zu den nicht unerheblichen Folgen der Pandemie, dass sie mit der akuten Bedrohungslage zugleich Jahrzehnte zurückdatierende Versäumnisse des Gesundheitssystems auf den Plan gerufen hat.
Ähnlich verhält es sich mit dem Krieg in der Ukraine sowie der Drohung einer Gasmangelversorgung. Der Ausgang ist kaum auszumalen, ein Zeitpunkt dafür nicht absehbar. Die Krise erscheint überhaupt nicht mehr als zeitlich begrenztes Ereignis, das sich einfach beenden und künftig verhindern ließe. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie mindestens die geopolitische Alltagslandschaft Europas langfristig umstrukturieren wird.
Die keineswegs auf das Ahrtal und Deutschland beschränkte Flutkatastophe im Jahr 2021 mutet dagegen weniger entgrenzend an. Zumindest ist ein klares Ende der Lage auszumachen. Doch folgt daraus allein noch nicht der oben beschriebene Prozess von Ursachenforschung und Präventionsmaßnahmen. In einem mit dem Titel „Aus Schaden klug werden“ überschriebenen Interview resümiert der Katastrophenforscher und -managementberater Wolf R. Dombrowsky ein Jahr nach dem Geschehen ernüchtert: „Ganz offensichtlich gelingt es im Ahrtal also nicht, einen übergeordneten, vernunftbasierten Katastrophenschutz gegen die Beharrungskräfte des Naheliegenden durchzusetzen. Bezeichnend dafür sind auch die Reaktionen der Verantwortlichen: Sie üben sich in Schönfärberei und spielen das „blame game“, beschuldigen sich also gegenseitig. Vorgeblich hätte man mit dieser Niederschlagsmenge und dieser Geschwindigkeit nicht rechnen können und prinzipiell sei man „gut aufgestellt“. Vor allem aber habe man getan, was man konnte. In der Katastrophenforschung sind diese Muster bekannt.“[2]
Während für Pandemie und Krieg die Reichweite der Ereignisse und ihre langfristigen Konsequenzen nicht zu überblicken sind, bleibt die Flut im Ahrtal – folgt man Dombrowsky – konsequenzlos für den Alltag. Ungeachtet der verheerenden Folgen des Ereignisses für die Betroffenen, folgen daraus keine Maßnahmen, die sein Auftreten in Zukunft vereiteln könnten. Verlängert sich in Pandemie und Krieg die Krise so weit und gründlich in den Alltag hinein, dass die Phasen ununterscheidbar werden, lässt die Flutkatastrophe den Alltag hinsichtlich der Präventionsmöglichkeiten gänzlich unberührt. In beiden Varianten herrscht die Krise, statt gesellschaftlich beherrschbar zu werden.
Dombrowskys Klage über die Tatlosigkeit im Ahrtal ist daher ausnahmslos beizupflichten. Anders verhält es sich aber, wenn er die Ursache dieser Tatlosigkeit bei vermeintlichen Verantwortlichen und deren individuellen Unwillen, Verantwortungslosigkeit oder Schuldabwehr verortet. Den Widerspruch, dass er individuelles Verhalten beklagt, dabei aber zugleich von bekannten Mustern der Katastrophenforschung spricht, welche notwendigerweise überindividuell sind, übergeht er. Die Erkenntnis der sozialen Bedingtheit von Katastrophen, selbst bei teils natürlichem Ursprung, betrifft auch die Möglichkeiten ihrer Prävention. Auch sie sind bedingt. Das erfordert eine ethische Reflexion des Handelns im Katastrophenschutz und seinen Voraussetzungen.
Zeiten, in denen sich Katastrophen- und Krisenereignisse überschlagen, sodass die Krise dabei fortwährend den Alltag begleitet und der Alltag keinen Spielraum für eine vernünftige Prävention übriglässt, stellen jene, die um Verbesserungen bemüht sind, vor ein Dilemma. Nicht erst die Lage, sondern bereits der Alltag erfordert eine Abwägung bei der Verteilung knapper Ressourcen. Jene Abwägung aber spitzt sich progressiv zu, je mehr sich der Alltag in eine Abfolge von Krisen verwandelt.
Entschuldigt man das Ausbleiben von einzelnen Vorkehrungen für die Zukunft mit dem Verweis auf sonstige Aufgaben und Lagen in der Gegenwart, verhält man sich fatalistisch und gleichgültig gegen künftige Opfer und Leiden. Fordert man aber spezifische Präventionsmaßnahmen für ein bestimmtes Szenario, die unter Berücksichtigung des Gesamtbilds unrealistisch sind, verschließt man die Augen vor dem Ausmaß der gegenwärtigen Krisen und der Überforderung der Alltagsstrukturen, die sie herbeiführen. Verlangt man diese Maßnahmen gar von Dritten und macht sie ohne gesellschaftliche Abhängigkeit für deren Ausbleiben verantwortlich, ist man mit von der Partie des Blame Games, das man jenen zuschreibt. Zu diesem fühlt sich auch der Verfasser dieses Textes eingeladen. Seine Hoffnung für eine Verbesserung hängt daran, den Widerspruch von Alltag und Krise bewusst zu machen und statt ihn aus der Praxis auszuklammern darin aufzunehmen: Zur Verhinderung vermeidbaren Leidens.
[1] Vgl. Sander, Leif Erik (2022): Wir werden wohl nie vor die Welle kommen. Immunologe Sander im Interview mit ntv. Online URL: www.n-tv.de/wissen/Wir-werden-wohl-nie-vor-die-Welle-kommen-article23724070.html
[2] Dombrowsky, Wolf R (2022): Welche Lehren der deutsche Katastrophenschutz aus der Flut im Ahrtal ziehen sollte. Online URL: https://www.dandc.eu/sites/default/files/print-editions/ez_2022-06_1.pdf
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