International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Mit allen reden?

Über Gräben und Brücken in der städtischen Gesellschaft

von Dr. Anne Burkhardt

23.09.2021 · Die Tübinger Künstlerin Nina Nielebock ruft mit ihrer Kunstaktion „Goldbrücke“, präsentiert und gefördert von INDUSTRIETEMPEL, zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Dialog in Zeiten der Spaltung auf. Während einer interaktiven Kunstaktion vom 22.August bis zum 3. September 2021 wurde der Handlauf des Geländers der stark frequentierten Mannheimer Kurpfalzbrücke mit goldener Restaurationsfarbe gestrichen und die Brücke somit als das Symbol für Verbindung und Austausch im Stadtbild betont und veredelt.

Mit ihrer Intervention in den urbanen Raum setzt die Künstlerin ein Zeichen gegen die Gräben, die unsere Gesellschaft durchziehen, sie spalten und polarisieren – und gegen diejenigen, die gezielt an der Vertiefung und Verbreiterung dieser Gräben arbeiten. Gemeint sind diejenigen, die sich offen zu gruppenbezogener Ausgrenzung, Menschenverachtung und Gewalt bekennen und deren Hass sich auf eine wachsende Reihe von Gruppen und Institutionen richtet: auf Zugewanderte, LGBTIQ*, die etablierten Parteien, die EU, die Medien, auf Umweltschützerinnen oder die Befürworter von Corona-Maßnahmen. Gemeint sind vielleicht aber auch diejenigen, die indirekt zulassen, dass desintegrative Haltungen um sich greifen und salonfähig werden. Zum Beispiel, weil sie sich nicht aktiv für den gesellschaftlichen Zusammenhalt einsetzen. Die breite Mehrheit also.

In Form der vergoldeten Brücke zeigt Nina Nielebock einen Weg auf, der verbindet statt spaltet. Die Brücke symbolisiert das Aufeinanderzubewegen, den Austausch, das Überwinden von Barrieren. Im Dialog liegt der Weg, soweit die klare und einleuchtende Botschaft. Doch: können wir wirklich mit allen reden? Oder, um mit der Metapher der Brücke zu sprechen: Wie müssten diese Brücken beschaffen sein, dass alle bereit sind sie zu nutzen? Und dass niemand Gefahr läuft abzustürzen? Ist es überhaupt wünschenswert mit allen zu reden? Oder ist es nicht an mancher Stelle sogar angezeigt, Gräben zu markieren und klare Grenzen aufzuzeigen? Vielleicht sogar die eine oder andere Brücke einzureißen – als Zeichen der Abgrenzung von dem, was wir ablehnen, und zum Schutze dessen, was uns wichtig ist?

Diese metaphorischen Gedankenspiele kreisen im Kern um das viel diskutierte Thema „mit Rechten reden“ – Titel eines erfolgreichen populärwissenschaftlichen Buches und Gegenstand kontroverser Debatten in Wissenschaft und Medien. Die zentralen Standpunkte derselben sind schnell zusammengefasst: Während die einen davor warnen, desintegrativen Kräften Gelegenheit zur Verbreitung ihrer Narrative zuzugestehen, sind die anderen der Meinung, dass echte Demokratie Dissens und auch unerwünschte Meinungen aushalten und offene Diskussionen darüber fördern müsse. Daneben existiert eine Debatte darüber, wo die Grenzen der (als „Meinungsfreiheit“ deklarierten) Toleranz gegenüber dem Desintegrativen liegen sollten und welche Formen der Abgrenzung bzw. der (moralischen) Verurteilung im Sinne der Demokratie vertretbar bzw. erforderlich sind. Das Ringen um den richtigen Umgang mit „rechts“ und die Suche nach geeigneten Gegenstrategien werden erschwert durch die Tatsache, dass die Grenzen zwischen „rechtsextrem“, „rechtspopulistisch“, „rechts-konservativ“ und dem „besorgten Bürger mit gesundem Menschenverstand“ fließend (geworden) sind. Wo also ansetzen mit dem „Brückenbau“? Und wo aufhören?

Mit diesen Fragen befasste sich das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Populismus, Demokratie, Stadt“ (PODESTA, 2017-2020), an dem ich gemeinsam mit Kolleg*innen der Universitäten Tübingen und Jena beteiligt war (für detaillierte Projektergebnisse siehe Buchpublikation „Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie“). Entgegen der verbreiteten Annahme, dass der Rechtsruck ein Problem des ländlichen Raumes sei, konzentrierten wir uns auf städtische (Lebens-)Räume und damit zusammenhängende Konflikte, wie solche um Mieten, Verkehr, Großbauprojekte oder Sicherheit. Mittels Interviews, teilnehmender Beobachtung und Dokumentenanalysen versuchten wir in den Untersuchungsstädten Leipzig und Stuttgart zu ermitteln, inwiefern städtische Konflikte und deren (Nicht-)Bearbeitung durch verschiedene institutionelle und zivilgesellschaftliche Akteure Nährboden für rechte Haltungen sein können. Unsere Forschung hat, metaphorisch gesprochen, verschiedene „Gräben“ in der gegenwärtigen städtischen Gesellschaft zu Tage gebracht und mögliche Strategien des „Brückenbaus“ reflektiert:

Bei der Analyse von vier städtischen Mikrokonflikten – der Streit um den Abriss eines Garagenhofs im Leipziger Osten, die Debatte um Dieselfahrverbote in Stuttgart sowie mietenpolitische Auseinandersetzungen in zwei sozial benachteiligten Quartieren – kristallisierten sich drei Faktoren als hauptsächliche Einfallstore für rechte Deutungsangebote heraus: Erstens Beteiligungs- und Demokratiedefizite, also das Gefühl, von politischen Entscheider*innen nicht gefragt, gehört und gesehen zu werden und in der Gesellschaft „nichts zu melden“ zu haben. Zweitens eine ausgeprägte Enttäuschung bzw. ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen und Akteuren, die als eigennützig handelnde „Eliten“ anstatt als Vertretung des „Volkes“ wahrgenommen werden. Drittens die (gefühlte) Bedrohung traditioneller Gesellschaftsordnungen und Identitäten, gekoppelt mit Verlustängsten, Gefühlen der Verunsicherung und Überforderung sowie, daraus resultierend, der Weigerung den großen gesellschaftlichen Transformationen unserer Zeit (Globalisierung, Digitalisierung, Nachhaltigkeit, Einwanderung, Gleichstellung, etc.) Rechnung zu tragen.

Städtische Konflikte, die potenziell einen oder mehrere dieser Faktoren ansprechen, werden von rechten Akteuren gezielt aufgegriffen und umgedeutet. In ihrem Diskurs erscheint der Mangel an bezahlbarem Wohnraum etwa als Folge einer verfehlten Einwanderungspolitik und die Dieselfahrverbote als gezielte „Enteignung“ des „rechtschaffenen deutschen Arbeiters“. Die Rechten inszenieren sich als Anwälte der Betroffenen und bieten diesen einfache Lösungen für komplexe Probleme, sowie einen Weg, sich moralisch auf der richtigen Seite – der des betrogenen, aber wehrhaften „Volkes“ – zu wähnen. Mit gesellschaftlich hoch brisanten Themen wie Mieten, Klima oder Corona, abseits der traditionell rechten Kernthemen Migration und Nationalismus, erreichen rechte Deutungsangebote wachsende Teile der Bevölkerung, auch solche, die sich selbst nicht unbedingt „rechts“ verorten. Ein „Brückenbau“, der derart breite und gleichzeitig diffuse Gräben überbrücken will, kann sich nicht mehr auf die (antifaschistische) Bekämpfung von Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung beschränken, sondern muss tiefer ansetzen: bei der Reduzierung und Beseitigung von Teilhabedefiziten, Unsicherheitsgefühlen und Vulnerabilitäten der Bürger*innen. Eine Kernthese des PODESTA-Projektes ist dabei, dass eine solche Demokratisierung der (städtischen) Demokratie zwar durch politische Maßnahmen „von oben“ begünstigt werden kann (z.B. durch eine Entprivatisierung des Wohnungsbaus), aber nur durch breites gesellschaftliches Engagement und Partizipation „von unten“ gelingen kann. Städtische soziale Bewegungen könnten hierzu einen Beitrag leisten, indem sie gezielt auf lokaler Ebene Initiativen, Angebote und Räume schaffen, die Solidarität und politische Wirksamkeit für alle erfahrbar machen – auch und gerade für diejenigen, die sich nicht vertreten fühlen (für praktische Beispiele siehe Buchveröffentlichung Kapitel 8 und 9).

Wie deutlich geworden ist, kann der „Brückenbau“ nicht eindimensional (von „denen“ zu „uns“ oder andersrum) gedacht werden, sondern muss gesamtgesellschaftlich erfolgen. In diesem Sinne könnten wir uns das „Brückenbauen“ wie das kollektive Knüpfen eines Brücken-Netzes vorstellen, das über Umwege jede mit jedem verbindet und sich wie ein großes Rettungstuch einmal quer über die Gesellschaft spannen lässt, mitsamt ihren Gräben und Rissen. Nina Nielebocks „Goldbrücke“ kann somit als Appell an uns alle verstanden werden, uns am Knüpfen dieses Brücken-Netzes aktiv, kreativ und mutig zu beteiligen, überall dann und dort, wo es uns möglich ist.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/217416