Post-Corona-Perspektive: Wie eine konstruktive Förderung von Mitgefühl auf individueller, gesellschaftlicher und institutioneller Ebene Friedensfähigkeiten stärken kann
von Cora Bieß
Sozialer Frieden und gesellschaftlicher Zusammenhalt bedürfen einerseits gerechter Strukturen, andererseits basaler prosozialer Einstellungen zwischen den Gesellschaftsmitgliedern. Diese lassen sich im Begriff des Mitgefühls theoretisch zusammenfassen. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie verschärfen einhergehende gesellschaftlichen Spaltungen, welche sich im politischen Miteinander zeigen. Der folgende Beitrag widmet sich der Frage, wie Mitgefühl in dieses Spannungsfeld hineinpasst, und wie seine Berücksichtigung uns Impulse gibt, friedliche Post-Corona-Strukturen zu bauen, die ein ‚Gegeneinander‘ abbauen und ein ,Füreinander‘ fördern.
Antagonistische „Wir vs. Sie“-Konstellationen schädigen eine Gemeinwohlorientierung und den sozialen Zusammenhalt. Dem vorliegenden Artikel liegt die Annahme zugrunde, dass prosoziales Mitgefühl potentiell erlern- bzw. kultivierbar ist. Wie eine konstruktive Förderung von Mitgefühl in der Gesellschaft nachhaltigen Frieden fördern kann, ist Thema des vorliegenden Artikels, hierfür werden im ersten Abschnitt Erkenntnisse des Neurowissenschaftlers Joachim Bauer[1] zum Entfaltungspotential von Mitgefühl skizziert, aus denen im zweiten Abschnitt eigene Impulse für eine Stärkung von Friedensfähigkeiten auf individueller, gesellschaftlicher und institutioneller Ebene abgeleitet werden. Friedensfähigkeit setzt dabei die Fähigkeit voraus, Gewalt zu erkennen, zu analysieren, an der Überwindung von Gewalt mitzuwirken und selbst gewaltfrei sozial zu agieren[2].
Das Bedürfnis nach sozialer Zuwendung, das durch Mitgefühl ausgedrückt wird, ist laut Joachim Bauer (Neurowissenschaftler, Internist, Psychiater und Psychotherapeut) ein neurobiologisch verankertes Grundbedürfnis[3]. Wenn Menschen Mitgefühl vorenthalten wird, reagieren ihre Schmerzsysteme. Schmerz, der durch Ablehnung, Zurückweisung und Ausgrenzung entsteht, kann Depressionen und Aggressionen begünstigen.
In Krisenzeiten, die geprägt von Zukunftsängsten und Unsicherheiten sind, nimmt die Gefahr eines Anstiegs von Depressionen und Aggression in der Gesellschaft nimmt zu.
Aus neurowissenschaftlicher Sicht entsteht das Selbst, das „Ich“ in dyadischer Interaktion zum „Du“. Diese dyadische Interaktion ist eng verknüpft mit den menschlichen Grundbedürfnissen, von anderen gesehen, gehört und wahrgenommen zu werden. Mitgefühl enthält somit eine Dynamik, die das Gegenüber beeinflusst und verändert, daher ist es wichtig, den Deutungs- und Zufügungscharakter des Mitgefühls zu reflektieren. Indem wir in direkter Interaktion mit anderen mitfühlen, deuten wir unser Gegenüber und vollziehen damit einen Eingriff in ihre*seine Person. Somit greifen wir mit dem Mitgefühl, das wir einer anderen Person im direkten Kontakt schenken, in die Psyche eines anderen Menschen ein. Durch diese Wechselwirkung drücken wir unserem Gegenüber gewollt, oder ungewollt; bewusst oder unbewusst eine Deutung auf. Mitfühlende Resonanzen haben machtvolle Effekte und ein dynamisches Potenzial, das uns verändern kann, indem es Möglichkeitsräume für Entwicklung und Wachstum fördert. Durch eine bestärkende, prosoziale Interaktion können persönlichen Ressourcen und Fähigkeiten gefördert werden. Doch gleichzeitig kann Mitgefühl auch manipulativ eingesetzt werden, wenn es für ein bestimmtes Ziel instrumentalisiert wird und dabei nicht das Mitempfinden, die Anteilnahme an sich, Selbstzweck ist. Die Manipulation des Mitgefühls kann ein Motivator dafür sein, Schuldige zu finden, die scheinbar für die eigene Opferrolle verantwortlich sind. Diese Instrumentalisierung ist ein Effekt, den zum Beispiel auch Rechtspopulist*innen gezielt einsetzen, um in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung und Spaltung Zuwachs in ihrer Anhänger*innenschaft zu finden.
In absichtsvoller Weise verstärken Populist*innen das Gefühl des Ausgegrenztseins, in dem sie im Kontakt mit ihrer Anhänger*innenschaft Mitgefühl gezielt einsetzen. Dabei bestärken Populist*innen ihre Anhänger*innenschaft darin, Abgehängte des Gesellschafts- oder Wirtschaftsystems, Vergessene und Exkludierte der Gesellschaft zu sein. Dadurch wollen Populist*innen das Gefühl in ihnen erzeugen, verstanden zu werden und in ihren Bedürfnissen wahrgenommen zu werden. Die Instrumentalisierung von Mitgefühl kann dabei eine Dynamik begünstigen, in der Populist*innen ihre Anhänger*innenschaft als „Opfer“ deklarieren, um sich selbst als ihre Retter*innen inszenieren zu können. Diese Rettung besteht jedoch nicht in der Forderung nach einem gerechten, inklusiven Gesellschaftssystem, sondern in der Ausgrenzung von Minderheiten, denen Hass und Hetze entgegengesetzt wird. Diese Dynamik schürt Gewalt in dem Gruppen gegeneinander ausgespielt werden.
Besonders in Zeiten der coronabedingten Auswirkungen könnten individuelle, wie kollektive Unsicherheiten, verbunden mit Einsamkeit und wenig sozialen Interaktionen, einen Nährboden für einen Anstieg von Fremdenfeindlichkeit bieten− und eine Konstruktion von „wir vs. die anderen“. Nach Bauer ist ein Anstieg von Fremdenfeindlichkeiten potentiell bei Menschen zu verzeichnen, die sich nicht gesehen fühlen und soziales Mitgefühl vermissen. Daraus entsteht Mitgefühlsneid, wodurch aus Sicht dieser Menschen beispielsweise Geflüchtete und Zugezogene das bekommen, was sie für sich selbst wünschen und fordern: mehr Mitgefühl und eine würdige Behandlung durch die Gesellschaft. Joachim Bauer beschreibt dieses Phänomen als „Mitgefühlsneidsyndrom“, wodurch Hass entstehen kann.
Für ein friedliches Zusammenleben ist anstelle eines ,Gegeneinander‘ ein anerkennendes und wertschätzendes ,Füreinander‘ von zentraler Bedeutung, das durch einen prosozialen Einsatz von Mitgefühl gestärkt werden kann. Wie Mitgefühl auf persönlicher, gesellschaftlicher und institutioneller Ebene einen prosozialen Einfluss haben könnte, wird im Folgenden skizziert:
Auf individueller Ebene ist es in Zeiten der Isolation durch Abstandhalten und Kontaktbeschränkung wichtiger denn je, empathisch und mitfühlend mit unserem sozialen Umfeld zu interagieren. Die Auswirkungen der Corona-Pandemie haben uns deutlich gezeigt, wie wenig momentan planbar ist. Unsere Erwartungssicherheit im Alltag ist ins Wanken geraten; Begegnungen und Rituale des öffentlichen Lebens, die uns zuvor Halt und Struktur gegeben haben, finden nicht mehr wie üblich statt. Unsere herkömmlichen sozialen Interaktionen und unsere Alltagsgestaltung haben sich durch den Lockdown drastisch verändert. Die Ungewissheit, wie lange die Auswirkungen der Corona-Pandemie unser Leben beeinflussen, kann zu Unsicherheiten und Ängsten führen. Mitgefühl für die aktuelle Lebenslage unserer Mitmenschen und für uns selbst kann das Gefühl von Ohnmacht und Lethargie lindern, und Gemeinwohlgedanken stärken. Auch wenn wir alle kein Patentrezept haben, wie wir mit der Ungewissheit den Auswirkungen der Corona-Pandemie adäquat umgehen, so können wir im persönlichen Kontakt (virtuelle) Räume schaffen, um miteinander in emotionale Resonanz zu treten. Durch Resonanz nimmt etwas von mir in unserem Gegenüber einen Platz ein und setzt Impulse für eine Veränderung. Friedensfördernde Eigenschaften, wie Anteilnahme und ungeteilte Aufmerksamkeit für das Gegenüber, sind dabei wichtige Impulse für ein anerkennendes und wertschätzendes ,Füreinander'. Auf dieser Ebene kann sozialer Frieden Bottom-up vom Individuum ausgehend durch friedensfördernde Fähigkeiten gestärkt werden.
Auf gesellschaftlicher Ebene könnten unsere kollektiven Narrative dahingehend überdacht werden, wie sie friedensfördernd formuliert und weitergegeben werden können. Nach Mendel (2015)[4] kann Sprache gewaltförmig sein. Da Sprache unser Denken und unsere Wahrnehmung formt, können gewaltfreie Narrative gesellschaftliche Prozesse prosozial beeinflussen. Indem diskursive Metaphern wie „leave no one behind“ und „du wirst angenommen, wie du bist“ stärker in das Zentrum gesellschaftliche Aushandlungsprozesse gestellt werden, anstelle von Narrativen wie „die Stärkeren gewinnen“, oder „die da oben machen doch, was sie wollen“, formen wir schon jetzt unsere kollektive Erinnerung, die ein Erfahrungsschatz für künftige Generationen werden kann. Dabei können wir Inklusion und Gemeinwohlorientierung ins Zentrum stellen. Wenn die Krise als Wendepunkt betrachtet wird, kann ein Diskurs, der auf Mitgefühl aufbaut, die Chance bieten, einen inklusiven Zusammenhalt zu schaffen. Rechtspopulist*innen kann es somit erschwert werden, das menschliche Grundbedürfnis nach sozialer Zuwendung zu instrumentalisieren. Insbesondere Personen des öffentlichen Lebens wie beispielsweise Politiker*innen, Medienschaffende oder auch Influencer*innen könnten hierbei eine wirksame Vorbildfunktion einnehmen, um gewaltfreie Narrative in die Gesellschaft zu tragen. Indem Ausgrenzung entgegengewirkt wird, können wir schon jetzt Stellschrauben für ein gerechtes und inklusives Gesellschaftssystem setzen, das nachhaltig friedlichen Strukturen fördert, und damit dem Entfaltungspotential von Hass und Hetze durch Rechtspopulist*innen entgegenwirkt.
Auf institutioneller Ebene kann die aktuelle Krise einen Impuls für eine Transformation unserer wichtigsten sozialen Institution – der Schule – geben. Nach Monaten des Homeschoolings ist eine große Debatte um die Schule als Institution und ihre zugrundeliegende Vorstellung von Lernen entfacht. Die Erfahrungen der Krise bieten soziale Lernprozesse und können impulsgebend sein, um den Lernort Schule neu zu denken, um damit Top-down Friedensbildung in der Bildungspolitik zukünftig zu verankern. Eine Studie des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität (Klagenfurt, Wien, Graz) kam zu der Erkenntnis, dass vorliegenden Konflikte in Klassenzimmern häufig in größere Rahmenkontexte eingebunden sind, wie zum Beispiel Gewaltstrukturen an den Schulen, unterschiedliche sozial-ökonomische Ausgangsbedingungen der Schüler*innen, Leistungsdruck sowie die Thematisierung von internationalen Krisen und Konflikten, die sich dann in den Klassenräumen und im Unterricht widerspiegeln[5]. Für einen konstruktiven Umgang mit diesen Formen von Konflikten ist es daher wichtig, diesen nicht nur auf kognitiver Ebene zu begegnen, sondern auch Raum auf emotionaler Ebene zu schaffen.
Die durch die Pandemie veränderten Einstellungen zu Lernen und Schule, die zugrundeliegenden Haltungen zu Schule als soziales System und die zwischenmenschlichen Interaktionen bieten einen Ausgangspunkt für eine Transformation des Schulsystems, das zukünftig die Förderung von prosozialen und friedensfördernden Fähigkeiten wie Mitgefühl, Anerkennung, Respekt und Wertschätzung in den Mittelpunkt der Bildungspläne stellen sollte. Über die Verankerung von Friedensbildung in der Bildungspolitik hinaus, kann eine erweiterte Partizipationsmöglichkeit für Kinder und Jugendliche wichtige Impulse setzen. Bislang dreht sich „die Debatte um den Umgang mit Bildungsinstitutionen, nicht aber um den Umgang mit Kindern selbst“. Inklusiv würde hier bedeuten, auch Stimmen von Schüler*innen Raum zu geben, um ihre Ideen und Vorstellungen in eine gelingende Transformation der (Schul-)Bildung zu integrieren. Im derzeit geführten politischen Bildungsdiskurs wird Schüler*innen kaum Handlungskompetenz zugeschrieben. Durch die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in diesen Prozess, kann ihnen zukünftig das Gefühl vermittelt werden, wahrgenommen zu werden und in den Gestaltungsprozess einer Post-Corona-Bildung miteinbezogen zu werden. Gesellschaftliche, inklusive Teilhabe hat einen positiven Effekt auf das menschliche Bedürfnis nach sozialer Zuwendung. Wenn soziale Zuwendung gefördert wird, können Dispositionen zu Depression und Aggression verringert werden. Dies stärkt letztendlich einen friedlichen Prozess, in dem Gewalt reduziert wird und Gerechtigkeit zunimmt.
Abschließend noch ein Ausblick auf die internationale Ebene: Eine Studie der schwedischen Malmö School of Education[6] untersuchte das Wechselspiel von Gewaltprävention, Konfliktbearbeitung und Friedenserziehung zwischen Mikro- und Makroebene. Dabei wurde festgestellt, wenn Menschen positive Erfahrungen hinsichtlich gewaltfreier Konfliktbearbeitung machen, dann reduziert sich auch das Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit auf Konflikte im internationalen Kontext. Somit kann im Zuge der fortschreitenden Globalisierung auch langfristig die Bereitschaft auf internationaler Ebene zum gewaltfreien, friedenspolitischen Engagement gefördert werden[7]. Daraus lässt sich schließen, dass eine etablierte Friedensbildung in der Schulpolitik langfristig auch Effekte auf internationaler Ebene erzielen kann.
Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/209416
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[1] Joachim Bauer (2005): Warum ich fühle was du fühlst – Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Hoffmann und Campe, Hamburg. Bauer, Joachim (2011): Schmerzgrenze – Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt. Blessing, München.
[2] Rademacher, Helmolt/ Wintersteiner, Werner (2016): Jahrbuch Demokratiepädagogik 4. Friedenspädagogik und Demokratiepädagogik 2016/2017. Wochenschau Verlag. Schwalbach
[3] Bauer, Joachim (2014): Das Gedächtnis des Körpers: Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper
[4] Mendel, Iris (2015): WiderStandPunkte. Umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Westfälisches Dampfboot. Münster
[5] Gruber, Bettina / Gamauf-Eberhardt / Dorfstätter, Petra (2015): Angewandte Friedens- und Demokratieerziehung. Einschätzung und Perspektiven. Cpdc. Konflikt- Frieden- Demokratie- Cluster. Klagenfurt/Stadtschlaining
[6] Carlsson, Karin Utas (1999): Violence Prevention an Conflict Resolution. A Study of Peace Education in Grades 4-6. Malmö
[7] Jäger, Uli (2016): Friedensbildung und -pädagogik: Strukturelle Verankerungen und Initiierung von Lernprozessen. In: Rademacher, Helmolt/ Wintersteiner, Werner (2016): Jahrbuch Demokratiepädagogik 4. Friedenspädagogik und Demokratiepädagogik 2016/2017. Wochenschau Verlag. Schwalbach