Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2021: Leute
Lehrbeauftragter für Jiddisch mit pädagogisch-humanistischem Grundanliegen
Zum Tod von Paul Rosenkranz ein Nachruf von Hermann Lichtenberger
Als Lehrbeauftragter für Jiddisch an der Evangelisch-Theologischen und später auch an der Philosophischen Fakultät hat Paul Rosenkranz von 1977 bis 2012 an der Universität Tübingen ohne Unterbrechung gelehrt. Er hat 70 Semester hindurch in jedem Semester drei Kurse in Jiddisch unterrichtet und dabei tief in Leben und Glauben des Judentums eingeführt.
Paul Rosenkranz wurde am 10. September 1922 als Leibisch Pejssach Rosenkranz in Radom, Polen, als Sohn eines Religionswissenschaftlers und Rabbiners geboren. Er starb am 13. August 2021 wenige Wochen vor seinem 99. Geburtstag in Stuttgart. Aus der Gymnasialzeit war der 17-jährige durch Gefangenschaft und Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern Auschwitz und Vaihingen a.d. Enz gerissen worden. Von den französischen Befreiern des Lagers Vaihingen am 7. April 1945 ist ein Bericht erhalten, der am 18. April 1945 in einer französischen Zeitschrift erschienen ist: „Von blühenden Kirschbäumen gesäumt führt die Straße durch das Enztal. Bei einer kleinen Brücke wird die Aufmerksamkeit des Passanten auf ein großes, weißes Leintuch gelenkt, das von einem zum Tal hin offenen Steinbruch herunterhängt: ‚Wir sind 2000 Gefangene in Not. Retten Sie uns!‘ steht dort in großen, roten Buchstaben in englischer Sprache geschrieben. Ein schmaler, steiniger Weg führt zum Lager. Es besteht aus etwa dreißig verwitterten, grau-grün gestrichenen Holzbaracken. (…) Wir werden sofort von einer Anzahl abgemagerter Gefangener, in zerlumpten blau-grau gestreiften KZ-Anzügen umringt. (…) Hier in diesem Lager gibt es keine Verbrennungsöfen, keine Gaskammern. Hier gibt es einfach nur den Tod durch Unterernährung zum Beispiel, durch Tuberkulose oder Fleckfieber.“
Erst 1946 konnte Paul Rosenkranz seine Studien in München und Stuttgart beginnen, arbeitete bis 1973 als Graphiker, darauf folgte eine Ausbildung zum Heilpädagogen. Sein religiös motiviertes, pädagogisch-humanistisches Grundanliegen kennzeichnete seinen 35-jährigen Unterricht. Nach einem Herzinfarkt im Jahr 2012 musste er diese geliebte und von vielen geschätzte Arbeit beenden. Im Jahr 1946 hatte er die Musikerin und Komponistin Marlies, geb. Frensemeyer geheiratet, die das künstlerische Leben der Ehe und Familie mitgestaltete. Ihr Tod im Jahr 1998 bedeutete für ihn und die Familie einen tiefen Einschnitt. Eine ihrer Kompositionen, ein Streichquartett, wurde im Jahr 2000 in der Reihe „Jüdische Komponistinnen des 19. und 20. Jahrhunderts“ neben Werken von Fanny Hensel u.a. zum ersten Mal öffentlich aufgeführt.
Mit der Traditionsliteratur des Judentums von Kindheit an vertraut, konnte Paul Rosenkranz den Studierenden neben der jiddischen und hebräischen Sprache eine umfassende Einführung in das Judentum, seine Literatur, seine Lebensordnungen und Wertvorstellungen vermitteln. Es gelang ihm, eine beständig wachsende Zahl Studierender aus verschiedenen Fakultäten für das Jiddische und seine Literatur zu begeistern, so dass zeitweise bis zu 50 Studierende Jiddisch belegten. Es ist wie ein Wunder, dass ein jüdischer Gelehrter, der die nationalsozialistische Herrschaft durchlitten hatte, bereit war, die jüdische Kultur Osteuropas in ihrer Sprache und Literatur in dem Land zu lehren, das deren Trägerinnen und Träger fast völlig vernichtet hatte.
Über seine Lehraufgaben an der Universität Tübingen hinaus hat Paul Rosenkranz in einer reichen Vortragstätigkeit eine breite Öffentlichkeit erreicht. Einer seiner beeindruckenden Vorträge mit dem Titel „Vom Wert des Menschen im Judentum“ erschien zusammen mit Beiträgen von Hans-Georg Gadamer, Alexander Demandt u.a. in der Reihe „Humanistische Bildung“ (Heft 12, 1988).
Für seine Lehre an der Universität, seine Vortragstätigkeit in der Öffentlichkeit und sein Werk der Versöhnung wurde Paul Rosenkranz 2002 von Ministerpräsident Teufel mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.
Alle, die bei Paul Rosenkranz studiert haben, die ihm begegnen durften und deren Weg er begleitete, werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Wir verneigen uns vor einem großen Lehrer. Zecher tsaddiq livracha, „Das Gedenken des Gerechten zum Segen“.