Uni-Tübingen

„Über das 'Selbermachen': Städtische Lebensentwürfe und Ressourcennutzung im Spannungsfeld von Natur-Kultur-Technik

Projektleitung: Prof. Dr. Monique Scheer

Doktorandin: Pia Hilsberg, M. A.

Das Vorhaben des Promotionsprojektes ist es, das Phänomen des 'Selbermachens' von Gebrauchs­dingen des Alltags in gegenwärtiger städtischer Verortung anhand ethnografischer Methoden in den Blick zu nehmen.

Handarbeit, Handwerk und Praktiken der Selbstversorgung sind älteste Kulturtechniken. Auch in jüngerer Vergangenheit lassen sich Phänomene und Bestrebungen des 'Selbermachens' beobachten, die mit verschiedenen Bedeutungen aufgeladen Auskunft über den gesellschaftlichen Kontext dieser Praktiken geben. Die handarbeitende Frauenbewegung der Französischen Revolution – die sogenannten Tricoteuses – oder das arts and crafts movement des viktorianischen Englands bis hin zu strickenden Politikern im Bundestag der 1970er Jahre lassen sich alle als 'Selbermacher' bezeich­nen, aber in jeweils unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen und mit verschiedenen poli­tischen Agenden. Heute zeichnet sich eine erneute Welle des 'Selbermachens' ab, was ebenso auf einen bestimmten gesellschaftlichen Zu­stand und aktuelle Diskurse hinzuweisen scheint. Dieses „neue Selbermachen“ wird mittlerweile auf vielfältige Weise im öffentlichen Diskurs aufgegriffen: in Zeitungs­arti­keln, durch Do-it-Yourself-Magazine, in Radiobei­trägen und Fernsehdokumentationen, in un­zäh­li­gen Ratgebern und Anleitungen oder gar in publi­zierten Selbstberichten. Es scheint, als träfen die Tätigkeiten des 'neuen Selbermachens' einen bestimmten gesellschaftlichen Nerv.

Das Promotionsprojekt fragt nach dieser Zeitspezifik: Kann das Bestreben selber zu machen als eine Reaktion auf den und als aktive Teilnahme am aktuellen Diskurs um endliche und schwindende 'Ressourcen' verstanden werden? Welche zeitgenössische Konzeptualisierung von 'Ressourcen' lässt sich im 'Selbermachen' erkennen? Welche Ressourcen werden von wem als schonenswert angese­hen, welche werden eingesetzt, um diese Schonung umzusetzen? Findet eine Hierarchisierung von Ressourcen statt? Welche Ressourcen mobilisiert das 'Selbermachen'? Entstehen neue Ressourcen durch das 'Selbermachen'? Was in anderen Kontexten als marginal erscheinen mag, kann im Kontext des 'Selbermachens' eine Ressource sein (wie z.B. Stadtbrachen, die zu wertvollem Raum im Kontext des urbanen Gärtnerns werden). Werden 'vergessene' oder 'alte' Ressourcen reaktiviert (wie z.B. Handarbeitstechniken oder Materialien)?

Ein zweiter Schwerpunkt des Promotionsprojekts ergibt sich aus den oben dargelegten Fragen: Auf welche Beziehung des Menschen zu Materialien, zu städtischem Raum, Pflanzen, Tieren und Technologien, lässt die Beobachtung schließen, dass immer mehr Menschen anfangen sich mit der Eigenproduktion von Gebrauchsdingen des Alltags (meist unter zeitlichem, finanzi­ellem und technischem Mehraufwand) zu beschäftigen, anstatt diese im Geschäft fertig produziert zu kaufen? Auf welche spezifische Mensch-Umwelt-Beziehung verweist das 'Selbermachen'? Wer und was ist an diesem (Ressourcen-)Komplex beteiligt? Wie treten durch die Praktiken des 'Selber­machens' Menschen mit Materialien, Räume, Technologien, Werkzeuge, Wissen und Diskurse in Kontakt? Welchen Einfluss nehmen die beteiligten nichtmenschlichen 'Akteure' auf sozialen Sinn? Besteht die soziale Welt aus diesem Zusammenwirken heterogener 'Akteure'?

Theoretischer Zugang

Der Ethnologe Tim Ingold schreibt Dingen bzw. Materialien einen aktiven Part in der Ausfor­mung von kulturellen Praktiken und Bedeutungszuschreibungen zu. Menschen versehen Dinge nicht einfach mit Bedeutung, diese Bedeutungszuschreibungen werden von der Materialität der Dinge und dem Umgang mit ihnen entscheidend beeinflusst. Auch die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) bietet mit ihrer Verwendung des Netzwerkbegriffs die Möglich­keit, Dinge, Ideen, Lebewesen und Stoffe miteinander zu verknüpfen, ihre gegenseitige Bedingtheit herauszuarbeiten und dichotome Betrachtungsweisen – wie z.B. Natur-Gesellschaft – aufzubrechen. Im Gegensatz zum akteurszentrierten Netzwerkverständnis wird bei der Akteur-Netzwerk-Theorie das Netzwerk als Beziehungsgeflecht aus heterogenen Aktanten verstanden. Gerade in Bezug auf das Ressourcenverständnis des SFB – die Annahme, dass materielle und immaterielle 'Ressourcen' Einfluss nehmen auf sozio-kulturelle Dynamiken und als 'Ressourcenkomplexe' gedacht und analysiert werden müssen – können die Zugänge Ingolds und der ANT zentral sein.

Methodischer Zugang

Anhand ethnografischer Methoden wie teilnehmender Beobachtung, Leitfragen gestützter Interviews im Feld, aber auch autoethnografischer Zugänge und unter der Beachtung entsprechen­der Plattformen des 'Selbermachens' wie Blogs, Magazine, Märkte, virtuellen und physischen Shops wird sich dem Phänomen des 'Selbermachens' genähert. Hierzu gehört auch die Erfassung der Räume des 'Selbermachens', der sozialen, topografischen, materiellen Infrastruktur und vor allem die dichte Beschreibung und Analyse der Praktiken (in ihrer synästhetischen Qualität) selbst, die erstaunlicherweise in vielen Studien, die sich mit Phänomenen des 'Selbermachens' beschäftigen, zugunsten des Sprechens über die Tätigkeit vernachlässigt wird.