Diagnose - Praxis
1. Bedrohungsdiagnose
Der Begriff „Bedrohungsdiagnose“ nimmt einen großen Teil der Erkenntnisse auf, die aus der Arbeit mit der Architektur der ersten Förderphase und den Diskussionen über Bedrohung und Bedrohungskommunikation gewonnen wurden. Er bezeichnet den Akt der Klassifikation von Ereignissen oder Zuständen als Bedrohungen, aber auch Aushandlungs- und Verdrängungsprozesse zwischen Klassifikatoren.[1] Für den SFB besonders bedeutsam ist die Hegemonialisierungsphase, innerhalb derer eine Bedrohungsdiagnose bzw. ein Komplex aus mehreren miteinander verbundenen Bedrohungsdiagnosen in den Vordergrund tritt bzw. geschoben wird. Der Begriff hebt damit hervor, dass es sich bei der Diagnose von Bedrohung um einen konsequenzenreichen Zuschreibungsprozess handelt, innerhalb dessen sich verschieden Elemente – Wahrnehmungen, Klassifikationen, Beobachtungstechnologien und Institutionen – zu einer komplexen Bedeutungszuschreibung verschränken.[2] Der Prozess der Bedrohungsdiagnose ist auf die Beantwortung der Fragen angelegt: „Was ist es, das uns bedroht?“
Bedrohungsdiagnosen entfalten ihre alarmierende Wirkung dadurch, dass sie Gegenwartsbezug und Zukunftsorientierung verbinden. Sie benennen, wer oder was zu Beginn der Bedrohung als bedroht angesehen wird, und verweisen gleichzeitig darauf, was eintreten könnte, wenn sich ein Bedrohungsszenario realisiert.[3] Bedrohungsdiagnosen sind demnach Erörterungen eines Status Quo im Hinblick auf zukünftige Ereignisse. Ist eine Bedrohungsdiagnose innerhalb der Akteure, sozialen Gruppen oder Gesellschaften, die eine Ordnung tragen, einmal etabliert und wird sie als real verstanden, können sich die Akteure kaum noch neutral und distanziert ihr gegenüber verhalten. Bedrohungsdiagnosen kanalisieren Aufmerksamkeit und umschreiben ein Feld von Handlungsoptionen. Sie stellen nicht nur eine Herausforderung für Bestehendes dar, sondern sie sind selbst eine Form der Ordnungsstiftung.[4] Dadurch, dass etwas als spezifische Bedrohung markiert wird, können soziale Praktiken mehr oder weniger geordnet an diese Diagnosen anschließen. Die Ambivalenz von Bedrohungsdiagnosen zwischen Infragestellung der Ordnung und Ordnungsstiftung macht sie zu einem zentralen Moment des re-orderings .
Bedrohungsdiagnosen können aufgrund unterschiedlicher Beobachtungsformen, -kategorien und -technologien zustande kommen. Sie werden aufgrund verschiedener Wissensbestände unterschiedlich ausgedeutet und qualifiziert. Sie können sowohl primär auf leiblicher Erfahrung basieren (z.B. Bombenangriffe, Lawinen) als auch den Einsatz aufwändigerer Verfahren und Technologien erfordern (Antibiotikaresistenzen von Mikroben, Sittenverfall, BSE). Ob Bedrohungsdiagnosen Relevanz für Ordnungen gewinnen, hängt maßgeblich damit zusammen, ob die Diagnosemethoden als legitim und Diagnoseinhalte als „wahr“ und „evident“ repräsentiert werden können.[5] Nicht selten entzünden sich Konflikte an der Wahrheit einer Bedrohungsdiagnose bzw. der Angemessenheit der Mittel der Wahrheitsfindung (z.B. Zeitpunkt des Weltuntergangs, AIDS, Klimawandel).[6]
Aufgrund unserer Forschungen der letzten Jahre halten wir die folgenden interdependenten Varianzen der Bedrohungsdiagnose für besonders folgenreich:
- ob eine Bedrohung aus der Perspektive der Akteure eher von innen oder von außen kommt,
- ob es sich um einen eher unbekannten oder bekannten Typus von Bedrohung handelt,
- ob sie als eher starke oder schwache Bedrohung erscheint,
- ob sie eher schnell oder eher langsam eintritt,
- ob sie eher die ganze Ordnung bedroht oder Teilaspekte, und
- ob sie flexibel und leicht veränderbare oder aber rigide und schwer veränderbare Aspekte einer Ordnung betrifft.
2. Bewältigungspraxis
Bewältigungspraxis wird als der Zusammenhang von Aktivitäten verstanden, die sich um individuelle oder kollektive Unternehmungen entfalten, die das Ziel verfolgen, Bedrohungen abzuwehren oder abzumildern. Sie verweist auf einen Praxiszusammenhang, der sich aus unterschiedlichen Akteuren und „Partizipanden“[7] sowie verschiedenen Aktivitätstypen ergibt. Bewältigungspraxis antwortet damit auf die Frage: „Was können wir machen, um eine Bedrohung abzuwehren oder abzumildern?“ Dabei ist davon auszugehen, dass diese Frage sich im Zuge der Bewältigungspraxis immer wieder neu stellt und dass ihre Antwort maßgeblich von Bedrohungsdiagnose, Mobilisierungsfähigkeit und Selbstverständnis der beteiligten Akteure und den zwischen ihnen bestehenden Machtverhältnissen bestimmt wird.
Zwei Formen von Bewältigungspraxis, die im Rahmen von bedrohten Ordnungen beobachtet werden können, stehen im Zentrum unseres Interesses. Einerseits existieren oftmals in irgendeiner Form institutionell legitimierte Akteursgruppen, die die Aufrechterhaltung oder Veränderung eines kollektiven Ordnungsentwurfs anstreben. Gleichzeitig können Akteure aber in Bedrohungssituationen primär auch ihr eigenes Wohlergehen oder das von Personen in ihrem unmittelbaren Umfeld im Auge haben. Zwar haben individuelle Bewältigungshandlungen noch nicht per se eine signifikante Auswirkung auf das re-ordering von bedrohten Ordnungen, allerdings können ihre kumulierten Effekte bedrohte Ordnungen sehr nachhaltig verändern (z.B. Panikverkäufe von Aktien oder solidarisches Verhalten nach Katastrophen). Im Rahmen des SFB 923 interessiert das Wirkverhältnis zwischen beiden Formen von Bewältigungspraxis bezogen auf das re-ordering bedrohter Ordnungen.
Wie bereits angedeutet, gehen wir darüber hinaus davon aus, dass sich wichtige Aspekte von Bewältigungspraxis über ein Verhältnis zwischen an bewussten Intentionen orientierten Handlungen einerseits und an routinierten Skripten orientierten Aktivitäten andererseits erschließt. Während erstere den Weberianischen Idealtypen des zweck- und wertrationalen Handelns nahe kommen,[8] sind die theoretischen Arbeiten von Pierre Bourdieu für letztere weiterführend. Bourdieu hat ein Begriffsrepertoire entwickelt, das gut geeignet ist, um nachzuvollziehen, wie durch habitualisierte Praktiken spezifischer sozialer „Sinn ohne Intention“ erzeugt werden kann.[9] Insbesondere anhand des Falls sozialer Ungleichheit arbeitet Bourdieu heraus, wie sich in der sozialen Praxis von Individuen soziale Ordnungsmuster reproduzieren, ohne dass die Akteure dies zum Ziel hätten.[10]
Diesbezüglich ist das Konzept des Habitus von zentraler Bedeutung. Dabei handelt es sich um durch Sozialisation erworbene Handlungs- und Wahrnehmungsschemata, die als „Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen“ unwillkürlich Orientierungen und Verhaltensmuster hervorbringen.[11] Weil der Habitus einer Person unter den Bedingungen einer spezifischen historischen Ordnung erworben wurde, an die er angepasst ist, ermöglicht er zwar auch den Umgang mit Neuem und Unerwartetem, er hat dabei aber auch immer kontinuierende Ordnungseffekte, die sich oft erst in einer historischen Perspektive zeigen. Wie im Abschnitt über Reflexion näher dargelegt wird, lässt sich im Wechselspiel zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive feststellen, dass unter Bedingungen bedrohter Ordnungen nicht alle Selbstverständlichkeiten und Handlungsroutinen fraglich werden, sondern dass kontextspezifische Verhältnisse zwischen Reproduktion existierender Ordnungsmuster durch habitualisierte Praxis und Neuaushandlung durch intentionales zweckorierentiertes Bewältigungshandeln existieren.
Das Ineinanderwirken dieser beiden verschiedenen Modi und Ebenen von sozialer Aktivität, die wichtig für das Verständnis des re-ordering sozialer Ordnungen sind, sollen im Rahmen des SFB 923 durch das Spannungsfeld, das sich zwischen einem Weberschen Handlungsbegriff und einem Bourdieuschen Praxisbegriff aufspannt, sichtbar und analytisch zugänglich gemacht werden. Weil dies den epochenübergreifenden Zielen des SFB entgegensteht, müssen die voraussetzungsvollen gesellschaftstheoretischen Implikationen der Theorieentwürfe der beiden Autoren, innerhalb derer sie ihre Begriffe situierten, allerdings ausgeklammert werden.
Die volle Reichweite des Begriffs der Bewältigungspraxis wird dadurch ausgeschöpft, dass er es, neueren Entwicklungen in den Sozial- und Kulturwissenschaften folgend,[12] ermöglicht, den Fokus für die soziale Wirksamkeit von nicht-menschlichen „Partizipanden“ zu öffnen. Dies betrifft etwa Objekte (z.B. Werkzeuge), Naturphänomene (z.B. Bodenbeschaffenheit), transzendente Akteursformen (z.B. Götter oder Orakel), Maschinen (z.B. Computer) oder nicht-menschliche Lebewesen (z.B. Mikroben). Je nach Art können diese Entitäten ihre Eigenschaften ändern (Boden), selbst aktiv sein (Mikroben) und/oder kommunikative Signale (z.B. Computer oder Orakel) an ihre Umwelt abgeben. Das aktive Hineinwirken dieser „Partizipanden“ in Praxiszusammenhänge geht über das hinaus, was traditionellerweise unter dem Strukturbegriff subsumiert wurde,[13] es geht aber nicht so weit, dass es unter dem klassischen Handlungsbegriff gefasst werden könnte.
Vereinfachend gesagt bestimmt sich die Bewältigungspraxis über das aktivitätszentrierte Verhältnis von Intentionen, Routinen, Lebewesen und Objekten. Im Anschluss an die Basisannahmen des SFB 923 soll intentionalem Handeln menschlicher Akteure dabei das zentrale Interesse zukommen. Die beiden anderen skizzierten Aspekte sollen als komplementäre analytische Zugriffe das Verständnis von Bewältigungspraxis erweitern. Dies soll es erlauben, den großen und sehr unscharf umrissenen Phänomenbereich, der normalerweise mit „nicht-intendierten Effekten“ umschrieben wird, einer begrifflich und analytisch präziseren Untersuchung zu unterziehen.
Insgesamt nehmen wir an, dass Bewältigungspraxis bezüglich
- der darin involvierten Akteurskonstellationen sowie der involvierten Aktivitätstypen variiert. Sie lässt sich
- bezogen auf das Verhältnis von intendierten und nicht-intendierten Effekten hin befragen. Darüber hinaus unterscheiden wir Bewältigungspraxis danach, ob sie
- eher reaktiv bzw. eher proaktiv ist,
- eher im Rückgriff auf vorhandene Skripte oder innovativ verläuft sowie
- vergleichsweise kurzfristige bzw. langfristige Ziele verfolgt.