Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 2/2024: Leute

Hochverdienter Theologe, Kirchenhistoriker, Lehrer und Seelsorger

Zum Tode von Professor Dr. Joachim Köhler ein Nachruf von Andreas Holzem

Die Katholisch-Theologische Fakultät in Tübingen trauert um ihren hochverdienten Kollegen, Emeritus Professor Dr. Joachim Köhler, der am 28. Februar 2024 verstorben ist.

Joachim Köhler wurde am 9. August 1935 in Waldenburg (Schlesien) geboren und teilte bereits als Kind die Erfahrung vieler, die bis heute zur Flucht gezwungen oder vertrieben werden. Er entschloss sich zum Studium der Theologie und wurde 18. März 1961 in Rottenburg zu Priester geweiht. Er wirkte als Vikar in Bad Waldsee, Salach, Schwäbisch Gmünd und Kornwestheim, dann als Religionslehrer in Göppingen und Tübingen. 

1971 begann er seine wissenschaftliche Qualifikation als Wiss. Assistent am Fachbereich Katholische Theologie der Universität Tübingen bei Prof. Dr. Rudolf Reinhardt. Seine Dissertation wurde 1973 veröffentlich unter dem Titel „Das Ringen um die tridentinische Erneuerung im Bistum Breslau“; seine 1980 publizierte Habilitationsschrift bearbeitete unter dem Titel „Die Universität zwischen Landesherr und Bischof“ die frühneuzeitliche Geschichte der vorderösterreichischen Landesuniversität Freiburg/Br. Nach seiner Promotion und Habilitation lehrte er zunächst seit 1977 als Privatdozent, seit 1981 als Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit mit besonderer Berücksichtigung der südwestdeutschen Landesgeschichte. 1985/86 amtierte er als Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen, 1994 bis 1999 vertrat er den vakant gewordenen Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte. In dieser Zeit veröffentlichte Joachim Köhler insbesondere zur Geschichte des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit und zur Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum. Den politischen Reden und dem Vermächtnis des württembergischen Staatspräsidenten und Widerständlers Eugen Bolz widmete er umfangreiche Editionsarbeiten. Seit 2000 lebte er im Ruhestand, forschte beharrlich weiter und wirkte unermüdlich als Seelsorger. Sein Geist war bis zum Ende beharrlich stark. 

Seine Art Geschichte zu betreiben war von Leitmotiven der Verkündigung ganz durchprägt. Er fragte auch als Historiker beharrlich danach, welche Früchte das Christentum in historischer Perspektive eigentlich trug. Eine Geschichte des christlichen Abendlandes, in die man sich als „heile Vergangenheit“ (29 ) ungebrochener Kirchlichkeit zurückträumen könnte, ist das nicht geworden, eher das Gegenteil. Und zwar deshalb, weil die dem Geschichtlichen so erdenschwer verhaftete Kirche sich so schwer damit tat, diese Kerne tatsächlich zu repräsentieren.

Vom Mittelalter sprach er als einer „Form machtvollen religiösen Lebens“, aber „wir sollten das Leben bedenken, das sich im Schatten der Kathedralen und Klöster abgespielt hat – und das war oft ein ärmliches und erbärmliches Leben.“ (30f.) Joachim Köhler ging es stets um diesen Kern: Was bedeutet Kirche und Christentum für das Leben der meisten Leute? In seinem Buch über das große Reformkloster Hirsau sah er, überscharf geradezu, wie viel Herrschafts- und Machtbeziehungen in einer Reform steckten, deren Errungenschaften, wie er schreibt, „die Kluft zwischen Geistlichen und Weltlichen vertieft und festgeschrieben“ haben (31). Von Romano Guardini hatte er sich sagen lassen: „Bei aller Bewunderung der Größe, Einheit und Innigkeit des mittelalterlichen Weltbildes darf nicht vergessen werden […]: Das Absolute wurde so stark empfunden, dass das Endliche in seiner Eigenbedeutung nicht entsprechend zur Geltung gelangte […]. Der mittelalterliche Mensch betete Gott an und gehorchte der Autorität […]. Damit genügte er der letzten Wahrheit, übersah aber oft die vorletzte; doch auch sie ist Wahrheit und darf nicht durch die Wucht jener anderen erdrückt werden.“ (32)

Darum war Joachim Köhler ein Freund des Franz von Assisi, der Elisabeth von Thüringen und ein Freund der Mystiker. „Das Anders-sein der Heiligen sehe ich in ihrem Menschsein“, schrieb er. „Heilige sind Individualisten, Menschen – Menschen, die deshalb vollkommene Heilige geworden sind, weil sie dem Menschen Jesus nachgefolgt sind. […] Ich verstehe das Anderssein nicht als Distanz zu uns armen Christen, die wir mit Alltagssorgen geplagt sind, während sie als die Vollkommenen […] die Kluft zu uns immer mehr vergrößern.“ (51f.) Joachim Köhlers Idee von Verkündigung und von Geschichte war immer die große Skepsis gegenüber denen, die die Kluft größer machen wollten: die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten, Priestern und Normalsterblichen, Reichen und Armen, Heiligmäßigen und mühselig Beladenen. Über die fränkische Mission des Bonifatius sagte er etwas spitz: Wenn „an die Stelle des Donarkultes […] ein Petruskult getreten [ist]“, dann „ist nicht viel Neues gewonnen worden.“ (66) Stattdessen Franziskus: „Wenn man die Quellen […] genau liest, entdeckt man, dass Franziskus nicht […] missionieren […] will. Er denkt an […] Gegenwart bei anderen, Dienstbereitschaft […], Friedenswille und Solidarität mit den Randgruppen […].“ (84) Stattdessen die Mystiker: „Geistliches Leben ist etwas Lebendiges und Ursprüngliches.“ (103) Mit Karl Rahner war er überzeugt, dass wer heute Christin und Christ sein wolle, Mystiker und Mystikerin sein und etwas ‚erfahren‘ haben müsse.

Es waren diese Ideen und Engagements, von denen er sehr kritisch auf die kritischste Phase deutscher Geschichte geschaut hat, und auch auf die Geschichte seiner Kirche und seiner Fakultät in dieser Zeit. Ob die Kirche ihrer Berufung gerecht geworden sei, als der Nazi-Terror über die Welt und die Menschen hereinbrach: in dieser Frage hegte er tiefe Zweifel. Sie ging als „Siegerin in Trümmern“ aus dem Dritten Reich hervor, jedenfalls wollte sie sich gern so sehen, wie Joachim Köhler schrieb. Sie hatte ihren volkskirchlichen Kern bewahren können, und das war nicht wenig. Aber dass der Tübinger Dogmatiker Karl Adam, in Sorge um einen zeitgemäßen Christusglauben, Jesus zum Arier erklärte (1938 noch…), dass Josef Rupert Geiselmann als Decanus perpetuus der Katholisch-Theologischen Fakultät festhielt am Ansinnen, der Fakultät ihren Status an einer Nazi-Universität zu sichern – das hat ihm keine Ruhe gelassen. Er musste sich deswegen der „Nestbeschmutzung“ zeihen lassen. Statt an Adam und Geiselmann hat er sich am Widerstand des württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz orientiert. In unermüdlicher Kleinarbeit hat er an diesem Mann exemplifiziert, was es hieß und heißt, Christentum und Politik zusammenzudenken und so zu handeln, dass es den Kopf kosten konnte. 

Joachim Köhler wollte auch die geflüchteten oder vertriebenen Landsleute nicht im Stich lassen, die nach den Verheerungen, die die Deutschen selbst angerichtet hatten, einen besonders hohen Preis zahlten. Er konnte nachempfinden, dass der deutsche Südwesten für viele eine „kalte Heimat“ (Andreas Kossert) war und blieb. Wahrhaftiges Christentum in einer kalten Heimat – darum ging es ihm als Historiker und als Seelsorger.

Die Dankbarkeit derer, denen er akademischer Lehrer, Religionslehrer und Seelsorger war – in genau dem Geist, in dem er auch akademisch gearbeitet hat – gilt auch seiner Offenheit. Er war in hohem Maße bereit, Leistungen der nachkommenden Generation anzuerkennen. Er sagte und schrieb, was er dachte, und das mit großer Entschiedenheit. Und gleichzeitig öffnete er weite Räume, weil er nie erwartete, seine Doktoranden und Habilitandinnen müssten ebenso denken.

Mit den Worten der katholischen Publizistin Ida Friederike Görres beschwor er einmal „eine nüchterne Liebe, die sich’s leisten kann, scharf zu sehen.“ (220) Darin werden die Tübinger Universität und Fakultät ihm verbunden bleiben.


1 Alle Seitenangaben: Joachim Köhler: Geschichte – Last oder Befreiung. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, hg. von Rainer Bendel unter Mitarbeit von Christoph Holzapfel und Christian Handschuh, Ostfildern 2000.