Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2024: Forschung

Fünf neue ERC Starting Grants gehen an die Universität Tübingen

Zwei Wissenschaftlerinnen und drei Wissenschaftler der Universität und des Universitätsklinikums werben mit ihren Projekten eine hochdotierte Förderung ein

Five new Starting Grants from the European Research Council awarded to University of Tübingen (English version)

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen und des Universitätsklinikums Tübingen waren in der aktuellen Vergaberunde des Europäischen Forschungsrats (ERC) erneut besonders erfolgreich bei der Einwerbung sogenannter Starting Grants: Fünf neue dieser Auszeichnungen, die mit einer hochdotierten Projektförderung verbunden sind, wurden ihnen zugesprochen. „Dass die Forscherinnen und Forscher der Universität Tübingen in der EU-weiten Konkurrenz um die attraktiven Starting Grants wiederum so erfolgreich waren, zeugt von ihren außerordentlichen Leistungen, ihrer großen Innovationskraft und ihrem Ideenreichtum. Gleich drei der fünf Grantees gehören einem unserer Exzellenzcluster an“, sagte die Rektorin der Universität Tübingen, Professorin Dr. Dr. h.c. (Dōshisha) Karla Pollmann.

Die neuen ERC Starting Grants:

Die Projektförderung für die Starting Grants beträgt insgesamt bis zu 1,5 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren. Mit den Starting Grants stattet der ERC herausragende junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit zusätzlichen Mitteln in ihrer Forschungskarriere aus.

Josef Leibold – Die Tumorzellen austricksen für bessere Krebstherapien

Josef Leibolds Projekt „Harnessing Senescence to Improve Cell-based Therapies against Cancer“ (EXPLOITsen) – Verbesserung zellbasierter Krebstherapien über in den Ruhezustand versetzte Tumorzellen – wird vom ERC mit insgesamt 1,5 Millionen Euro über einen Zeitraum von fünf Jahren gefördert. Er will Tumorzellen zunächst in einen Ruhemodus versetzen, um sie für spezifisch auf den Krebs angesetzte Zellen des Immunsystems besser angreifbar zu machen.

Die Zahl der Krebsneuerkrankungen in Europa wird in den kommenden Jahren deutlich ansteigen, und es werden dringend neue Behandlungskonzepte benötigt. Die Mobilisierung des körpereigenen Immunsystems gegen die Krebszellen stellt dabei einen vielversprechenden Ansatz dar. „Eine spezifische Herangehensweise besteht darin, die körpereigenen T- oder NK-Zellen des Immunsystems mit sogenannten Chimären Antigen-Rezeptoren, abgekürzt CAR, genetisch zu modifizieren“, erklärt Leibold. Mithilfe der CAR erkennen die Immunzellen ein Oberflächenmolekül auf den Tumorzellen und lösen eine spezifische Immunantwort gegen diese Krebszellen aus.

„Bei hämatologischen Tumorerkrankungen werden mit der CAR-T-Zelltherapie durchschlagende Erfolge erzielt, nicht aber bei soliden Tumoren“, berichtet der Mediziner. Die Tumorzellen seien bei diesen Krebserkrankungen häufig heterogen, und das Immunsystem könne im Mikromilieu um die soliden Tumore herum kaum eingreifen. Mit seinem Projekt EXPLOITsen will Leibold diese Herausforderungen gemeinsam mit seinem Team gezielt angehen.

„Mit meinem Ansatz machen wir uns in einer Kombinationstherapie zunutze, dass die Tumorzellen in eine Art Winterschlaf versetzt werden können, der Seneszenz genannt wird. In diesem Zustand können sich die Tumorzellen nicht weiter teilen“, erklärt Leibold. Daran will er die eigentliche CAR-Immun-Zell-Therapie anschließen. Durch genetische Modifikationen sollen die CAR-Immunzellen individuell an die Eigenschaften seneszenter Tumorzellen angepasst und zusätzlich auf das immun-feindliche Mikromilieu solider Tumore vorbereitet werden. So sollen sie letztendlich die Tumorzellen eliminieren können. Ein erfolgreicher Abschluss des Projekts hat das Potenzial, die CAR-Immunzell-Therapie im Kontext solider Tumore zu etablieren und neue Behandlungsoptionen für Patientinnen und Patienten mit schwer behandelbaren Krebserkrankungen zu ermöglichen.

Marius Lemm – Mathematische Lösungen für quantenphysikalische Modelle

Bei einem Gewitter sehen wir den Blitz, bevor wir den Donner hören – Licht gibt also Informationen mit höherer Geschwindigkeit weiter als der Schall. Das ist seit Langem bekannt. Wie schnell sich Informationen in Quanten-Vielteilchen-Systemen ausbreiten, wirft hingegen noch viele Fragen auf. Marius Lemm möchte in seinem Projekt „The Mathematics of Quantum Propagation“ (MathQuant-Prop) – Die Mathematik der Informationsausbreitung in Quantensystemen – mathematische Methoden anwenden, um Quantensysteme zu erforschen, die in der Physik derzeit von großem Interesse sind. Dabei wird er vom ERC über einen Zeitraum von fünf Jahren mit knapp 1,5 Millionen Euro gefördert.

Zwar sei er vor allem Mathematiker, sagt Lemm, pflege aber enge Kontakte zur Physik: „Dort wurden in der experimentellen Quantenphysik in den vergangenen 20 Jahren große Fortschritte beim kontrollierten Erzeugen von Modellen und hochaufgelösten Messen erzielt. Mich interessiert, ob sich Kernaussagen wie die zur Informationsausbreitung in solchen Systemen mathematisch beweisen lassen.“ Was setzt die Geschwindigkeitsgrenze in dem System? Oder gibt es in diesen Modellen keine Geschwindigkeitsgrenze? „Antworten auf solche Fragen geben uns die Möglichkeit, bestimmte Fähigkeiten und Limitierungen der Systeme in Anwendungen, zum Beispiel für Quantenalgorithmen, daraus abzuleiten“, erklärt er. Quantenphysikalische Modelle seien der Versuch, die mikroskopischen Zusammenhänge in der Natur zu verstehen, die sich aus der Perspektive der Quantenphysik beschreiben lassen.

Lemm hat es dabei mit Quantenteilchen und -phänomenen zu tun wie den Bosonen, ununterscheidbaren Teilchen, die sich einerseits hüpfend und andererseits kontinuierlich durch den Raum bewegen können. „Das entscheidende Zusammenspiel ist das von Intuition und Formalismus der Mathematik, bei dem man sich Schritt für Schritt dem Ziel eines Beweises nähert“, sagt Lemm. So ändere die Herangehensweise der Mathematik die Art, über physikalische Probleme nachzudenken und Sonderfälle zu identifizieren. So könnten durch wechselseitigen Anstoß aus beiden Feldern Fortschritte erzielt werden, zum Beispiel könnten Systeme mit ungewöhnlich schneller Informationsausbreitung für Quantentechnologien nützlich werden.

Isabel Monte – Vom Schädling zum Nützling im Kontext der Pflanzenevolution

Isabel Montes Projekt baut auf einer zufälligen eigenen Entdeckung auf: Der Pilz Trichoderma, der schon länger im Nutzpflanzenbau in der biologischen Schädlingsbekämpfung zur Förderung des Wachstums, der Widerstandsfähigkeit und Stresstoleranz bei Blütenpflanzen eingesetzt wird, kann auf Moose und Farne, sogenannte Sporenpflanzen, eine völlig gegenteilige, schädliche bis tödliche Wirkung haben. Trichodermas Wandlung vom Schädling zum Nützling will sie in ihrem Projekt „When your enemy becomes your friend: Evolution of the interaction between fungi and land plants” (FRIENEMIES) – Wenn dein Feind dein Freund wird: Evolution der Wechselwirkung zwischen Pilzen und Landpflanzen – auf molekularer Ebene auf den Grund gehen. Das Projekt wird über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt 1,5 Millionen Euro gefördert.

Moose und Farne entwickelten sich über Millionen von Jahren unabhängig von den Blütenpflanzen. „Mein Team und ich identifizierten Trichoderma als das erste bekannte Beispiel eines Pilzes, der auf die Sporenpflanzen einerseits und die Blütenpflanzen andererseits eine so gegensätzliche Wirkung hat“, berichtet Monte. Bei Blütenpflanzen, zu denen der ganz überwiegende Teil unserer Nutzpflanzen gehört, seien die Wechselwirkungen mit Pilzen und anderen Mikroorganismen auf molekularer Ebene ausführlich untersucht worden. Da gebe es alle Spielarten der Beziehungen, von schädlichen Pflanzenparasiten bis zum Mutualismus, bei dem sowohl Pflanze als auch Mikrobe Nutzen aus dem Zusammenleben ziehen. „Die molekularen Pflanze-Mikrobe-Wechselwirkungen werden seit Kurzem auch an Moosen und Farnen modellhaft untersucht. Wir nutzen die Modelle, um mehr über die molekularen Mechanismen zu erfahren, die der krankmachenden Wirkung von Trichoderma auf die Sporenpflanzen unterliegen“, sagt die Wissenschaftlerin.

Dazu wählte sie zwei Moosarten und eine Farnart aus, deren Genome sequenziert sind, sowie zahlreiche Stämme von Trichoderma. „Im nächsten Schritt untersuchen wir die Verschiebungen in der Beziehung hin zum Mutualismus, die vermutlich mit der Entstehung der Blütenpflanzen vor 100 Millionen Jahren begannen.“ Ziel des Projekts sei es, das komplexe und dynamische Wechselspiel zwischen Landpflanzen und Mikroben während der Evolution zu verstehen. Zwar gehöre das Projekt in die Grundlagenforschung. Doch könne man sich das Wissen über die Beziehung von Sporenpflanzen zu Trichoderma etwa im Zusammenhang von Dachbegrünungen mit Moos oder zur Bekämpfung von unerwünschtem Moosbewuchs in Gewächshäusern zunutze machen.

Claire Vernade – Algorithmen, die sich an dynamische Umgebungen anpassen

Die Informatikerin Claire Vernade möchte erreichen, dass Systeme des maschinellen Lernens in sich verändernden, realen Umgebungen verlässlich und zugleich anpassungsfähig sind. Maschinelles Lernen hat in Bereichen von der Sprachmodellierung bis hin zur Arzneimittelforschung bereits beeindruckende Entwicklungen ermöglicht. Doch den Systemen mangelt es noch an wichtigen Fähigkeiten: „Um das Potenzial von künstlicher Intelligenz voll zu nutzen, brauchen wir Systeme, die sich selbstständig anpassen können und auch dann zuverlässig bleiben, wenn sich die Datenverteilung ändert oder wenn sie mit ganz neuen Situationen konfrontiert werden“, erklärt Vernade. Ihr Projekt „Continual and Sequential Learning for Artificial Intelligence“ (ConSequentIAL) – Kontinuierliches und sequenzielles Lernen in der künsltichen Intelligenz – wird über einen Zeitraum von fünf Jahren mit rund 1,25 Millionen Euro gefördert.

Sie stützt sich bei ihrem Vorhaben auf Techniken, die im Bereich des Reinforcement Learning (deutsch: ‚Verstärkungslernen‘) entwickelt wurden. Im Reinforcement Learning durchsucht ein sogenannter Agent – die Softwareeinheit, die trainiert wird – eine Umgebung, um vordefinierte Ziele zu erreichen. Außerdem ist er in der Lage, durch Versuch und Irrtum zu lernen. „Ich möchte Agenten der künstlichen Intelligenz entwickeln, die intelligente Entscheidungen darüber treffen können, wann und wie sie neue Daten sammeln, um neue Situationen zu durchdringen und sich an sie anzupassen – eine Fähigkeit, die wir im Reinforcement Learning als Exploration bezeichnen.“

Vernade möchte die theoretischen Grundlagen dafür schaffen, diese Fähigkeit mit bestehenden Modellen des maschinellen Lernens zu kombinieren. So werden die Algorithmen in der Lage sein, nach und nach neue und andere Daten zu verarbeiten und nach neuen Lösungen zu suchen. Langfristig sollen Systeme des maschinellen Lernens entstehen, die Wissenschaft und Gesellschaft bei der Lösung komplexer Probleme unterstützen.

Florian Wimmers – Besserer Infektionsschutz während einer Krebserkrankung

In seinem Projekt „Organoid- and AI-based Identification of Oncology Drug-Vaccine Interactions” (OrAIOn) – Identifikation der Wechselwirkungen von Krebsmedikamenten und Impfstoffen mithilfe von Organoiden und Methoden der künstlichen Intelligenz – möchte Florian Wimmers Möglichkeiten für einen besseren Infektionsschutz von Krebspatientinnen und -patienten erforschen. Sein Vorhaben wird vom ERC über einen Zeitraum von fünf Jahren mit insgesamt 1,5 Millionen Euro gefördert.

Infektionskrankheiten bleiben eine ernste Bedrohung für die globale Gesundheit, wobei die drei häufigsten Infektionen allein im Jahr 2021 mehr als zwölf Millionen Todesfälle verursacht haben. „Besonders gefährdet sind Krebspatientinnen und -patienten, die oft durch Impfstoffe nicht ausreichend geschützt werden“, sagt Wimmers. Dies könne auch an der immunsuppressiven Wirkung vieler Krebsmedikamente liegen, die das körpereigene Immunsystem schwächen und somit möglicherweise die Wirksamkeit von Impfungen beeinträchtigten.

Gemeinsam mit seinem Team will Wimmers den Einfluss von Krebsmedikamenten auf die Wirksamkeit von Impfstoffen systematisch untersuchen. Zum Einsatz kommen dabei neuartige Tonsillen-Organoide, die die Impfreaktion im Körper realitätsgetreu nachahmen. Sie simulieren die Vorgänge, die normalerweise in den Lymphknoten – den sogenannten Immunzentralen des Körpers – ablaufen. Durch die Untersuchung des Einflusses einer breiten Palette von Krebsmedikamenten auf diese Organoide kann das Team besser verstehen, wie das Immunsystem von Krebspatientinnen und -patienten auf Impfstoffe reagiert und welche Wechselwirkungen bestehen. „Ein weiteres zentrales Element des Projekts ist der Einsatz fortschrittlicher KI-Algorithmen zur Erstellung eines virtuellen Lymphknotens“, erklärt Wimmers. Dieses Modell soll in der Lage sein, Impfreaktionen vorherzusagen, die im Labor nicht getestet wurden. „Dadurch können wir potenzielle Wechselwirkungen zwischen Krebsmedikamenten und Impfstoffen noch umfassender identifizieren“, sagt der Forscher. Dies führe zu einer schnelleren Entwicklung personalisierter Impfempfehlungen.

Ihre Resultate werden Wimmers und sein Team in einer umfassenden Datenbank mit nachgewiesenen Wechselwirkungen zwischen Medikamenten und Impfstoffen veröffentlichen. Langfristig sollen die Ergebnisse dieses Projekts nicht nur eine präzisere Impfstoffempfehlung für Krebspatientinnen und -patienten ermöglichen, sondern auch zur Entwicklung neuer und wirksamerer Impfstoffe für alle Menschen beitragen.

Janna Eberhardt