Philologisches Seminar

Zeit

Zeit ist eine der zentralen Analysekategorien der Narratologie. Sie gliedert sich nach Genette in die drei Aspekte Ordnung, Dauer und Frequenz.

Die Kategorie der Ordnung bezieht sich auf die Anordnung der einzelnen Erzählepisoden, die entweder einem zeitlich linearen oder einem unregelmäßigem Schema folgt. Bei nicht-chronologischen Anordnungsverfahren einzelner Szenen liegt entweder eine Prolepse (flashforward) oder eine Analepse vor (flashback) vor. In Vergils Aeneis beinhalten die Bücher 2 und 3 eine umfangreiche Analepse, weil das in ihnen erzählte Geschehen zeitlich vor Buch 1 gehört. Die Vorausdeutungen auf Augustus und das Hier und Jetzt des Vergilischen Rom in Buch 6 (Aeneas’ Besuch der Unterwelt) bilden eine Prolepse mit Blick auf ein späteres Geschehen, das zeitlich außerhalb der Grenzen des Erzählwerkes liegt.  Unter Dauer wird die Frage behandelt, ob die Erzählzeit im Verhältnis zur erzählten Zeit raffend, dehnend oder identisch ist. Identisch ist das Verhältnis beispielsweise in direkter (dialogischer) Figurenrede. Anders ist der Fall in einer summarischen Darstellung, d.h. bei lang andauernden Sachverhalten, die in einer relativ kurzen Erzählzeit abgehandelt werden. Eine Sonderform bilden die narrative Pause, d.h. einem erzählerischen Exkurs ohne Verbindung zur eigentlichen Handlung, oder die Ellipse, d.h. das Auslassen ganzer Ereignisse (Fludernik 2013, 168–169). Die Kategorie der Dauer sensibilisiert für die Rhythmik des Erzählens und weist auf eine Beschleunigung und Verlangsamung des Erzähltempos hin. Frequenz bezieht sich dagegen auf die Häufigkeit, mit der einzelne Ereignisse erzählt werden. So kann beispielsweise die Ereignishaftigkeit einer Handlung graduell variieren, je nachdem, wie oft das Ereignis wiederholt wird.

Relevant für Zeitanalysen ist die grundlegende Unterscheidung zwischen fabula und story (Genette spricht von histoire und récit): während mit story die Erzählung (narrative) gemeint ist, bezeichnet fabula das Erzählte Geschehen, so wie wir es als narratees auf Grundlage der Erzählung rekonstruieren (Martinez/Scheffel 2009, 26; de Jong 2014, 38 & 76–78). Im Falle der Aeneis beginnt die fabula mit dem in Buch 2 erzählten Fall Trojas, während die story in Buch 1 sieben (Irrfahrten-)Jahre später mit dem Seesturm und der dadurch motivierten Anlandung in Karthago einsetzt. Der temporale Ablauf eines Geschehens erfordert keine Deixis, weil das Vergehen von Zeit dem Erwartungshorizont unseres Weltwissens entspricht. Dagegen müssen zeitliche Konstellationen wie Gleichzeitigkeit (Synchronie) explizit angegeben werden (z. B. durch Zeitadverbien wie ‚zugleich‘). Genau umgekehrt verhält es sich beim Raum (Fludernik 2013, 54–55); hier gilt es, die Veränderung im Raum zu bezeichnen (z. B. durch Verben der Bewegung: Figur A ‚bewegt sich‘ von Raum x zu Raum y).

Artikel Time im Living Handbook of Narratology

Infografik Dauer

Infografik Frequenz

Infografik Zeitdarstellung

Literatur zum Thema (Auswahl)

Einführende Literatur:
  • Fludernik, Monika (32013), Erzähltheorie. Eine Einführung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 54–55.

  • Jong, Irene J. F. de (2014), Narratology and Classics. A Practical Guide, Oxford: Oxford University Press, 73–103.

  • Martínez, Matías/Scheffel, Michael (112019), Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck, 29–50.

  • Weixler, Antonius/Werner, Lukas (2018), Zeit, in: Martin Huber/Wolf Schmid (Hrsg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft. Erzählen, Berlin, Boston: De Gruyter, 263–277.