International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Kinder zu Wort kommen lassen

Ein literarisch-künstlerischer Blick auf die Corona-Zeit aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen

Von Vera Vorneweg, Dr. Marcel Vondermaßen

13.01.2021 · Ein nassglänzender Morgen im winterlichen Düsseldorf. Schulkinder stehen in kleinen Gruppen vor Werbeplakaten an der Haltestelle. Brillen zum Sonderpreis, Neujahrsrabatte fürs Fitnessstudio. Die Straßenbahn fährt ein. Dichtgedrängt strömen die Kinder in die Bahn, alle tragen eine Mund-Nasen-Bedeckung; ein Mann mit Hut nimmt noch hastig einen Zug von seiner Zigarette, drückt sie auf dem Boden aus und steigt ein. Er trägt keine Maske.

Eine Person betritt ohne Maske die Straßenbahn?

Wohingegen dieses Bild uns noch vor einem Jahr nicht zum Nachdenken gebracht hätte, ist es heute, nur ein Jahr später, zu einem neuen Tabubruch geworden. Doch wie empfinden eigentlich Kinder und Jugendliche die Corona-Maßnahmen, also der Teil unserer Gesellschaft, der gerade dabei ist, all das zu entdecken und zu lernen, was für Erwachsene selbstverständlich, was überhaupt „Alltag“ ist? Das literarische Kunstprojekt „Ein Stuhl ist kein Stuhl“ will auch den kindlichen Perspektiven auf die Krise eine Stimme im öffentlichen Raum verleihen. Der Artikel wird daher dieses Kunstprojekt vorstellen und die damit verbundenen ethischen Fragen beleuchten:

An Düsseldorfer Schulen sollen im Rahmen der Nachmittagsbetreuung Workshops für Kinder der Jahrgangsstufen 5-13 angeboten werden, in denen diese ihre pandemiebedingten Erlebnisse, Ängste und Hoffnungen zur Sprache bringen und zu Geschichten verarbeiten.

In der ersten Workshopeinheit sollen die Kinder und Jugendlichen über die Beschreibung von einzelnen Gegenständen miteinander in Austausch treten; Gegenstände, die für sie während der von Einschränkungen bestimmten Zeit eine besondere Relevanz hatten. Hierfür werden die Schüler*innen gebeten, diese Gegenstände mit in die Schule zu bringen. Während dieser Projektphase soll vor allem mit kreativen Schreibmethoden, wie Mind-Mapping oder Assoziativem Schreiben, gearbeitet werden. Diese Workshopphase stellt den „schwärmerischen Teil“ des Projekts dar: In denen in diesem Rahmen entstandenen Texten darf alles zur Sprache Gebrachte seinen Platz haben: Ängste, Hoffnungen, Erwartungen, Frust. Zum Abschluss dieser Workshopphase lesen sich die Schüler*innen die Texte gegenseitig vor, wobei das Geschriebene nicht zur Diskussion steht. Alles darf so sein, wie es beschrieben wurde.

In der zweiten Workshopeinheit sollen die Kinder und Jugendlichen dazu angeregt werden, eine Geschichte, oder auch mehrere Geschichten zu schreiben, in denen ihr beschriebener Gegenstand, aber auch die von den anderen Kindern, zur Sprache gebrachten Gegenstände eine Rolle spielen. Hintergrund dieser Einheit ist, dass durch die Aufforderung des Schreibens einer Geschichte, die Gegenstände noch einmal von einer anderen, fantasievolleren Seite aus betrachtet werden können. Die Möglichkeitsspektren der beschriebenen Gegenstände können sich auf diese Weise erweitern. Zudem besteht durch das Erstellen fiktionaler Texte für die Schüler*innen die Möglichkeit, ihren Gefühlen, Ängsten und Sorgen in einer anderen Form Ausdruck zu verleihen.

In der dritten Projektphase soll gemeinsam mit den Kindern überlegt werden, welche Textbausteine ihrer Werke im öffentlichen Raum publiziert werden können. Hier gilt es die Texte in Zusammenarbeit mit den Kindern noch einmal genaustens zu durchleuchten, vor allem hinsichtlich der Frage: „Was will ich den anderen Menschen sagen?“ Diese sollen dann in Zusammenarbeit mit der Rheinbahn AG an Haltestellen und auf Straßenbahnen in Düsseldorf veröffentlicht werden.

Doch die Publikation künstlerischer Arbeiten wirft ethische Fragen auf. Wer darf, was, wann, wo in welche Öffentlichkeiten tragen? Diese Fragen sind umso dringlicher, wenn die veröffentlichten Äußerungen von Kindern stammen, da ich (Vera Vorneweg) in diesem Fall doppelt Verantwortung übernehme: für die Äußerungen, die in meiner Kunstaktion getätigt werden, und für die Kinder, die sie tätigen. Wie beschrieben, soll im ersten und zweiten Teil des Projekts ein Raum zur Reflexion der gegenwärtigen Geschehnisse entstehen. Gerade in dieser Zeit kommt der Sprache und dem kreativen Umgang mit ihr eine Schlüsselrolle zu, denn wie wir die Wirklichkeit sprachlich fassen können, rahmt, wie wir die Wirklichkeit erleben.  Im dritten Teil des Projektes werden die Kinder und Jugendlichen dazu eingeladen, das Narrativ, das sie selbst dieser Zeit geben wollen, aktiv in die Öffentlichkeiten zu tragen.

Nach wie vor wird der öffentliche Raum hauptsächlich durch Erwachsene gestaltet – Kinder und Jugendliche stellen hier eine marginalisierte Gruppe dar, der kaum Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Diskurse mit zu formen. (Mehr zu „Kinder und Jugendliche im Corona Diskurs“ aus unserem Blog finden sie hier.) Die Texte, die im Rahmen von „Ein Stuhl ist kein Stuhl“ entstehen, wollen dieser Tatsache entgegenwirken und Kindern die Gelegenheit geben, den kindlichen Erlebnishorizont der Krise aus ihrer Sicht in die Öffentlichkeiten mit einzuschreiben. 

Da es allerdings um eine Veröffentlichung von Texten geht, die von Kindern verfasst wurden, ergibt sich eine zusätzlich zu beachtende Dimension für die Workshopleitung: Es existiert eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen Kindern und den für sie Verantwortlichen. Das Projekt will den Kindern eine Stimme im öffentlichen Raum verschaffen und eine Plattform bieten. Doch in vielen Fällen müssen Entscheidungen für Kinder getroffen werden, oder die Verantwortlichen treten gegenüber Dritten (z. B. dem Staat, Lehrkräften etc.) als Verhandlungspartner*innen und Organisator*innen an deren Stelle. Dies wird in der Ethik unter anderem unter den Stichworten „Anwaltschaftlichkeit“ und „advokatorisches Handeln“ diskutiert. Für Hans-Martin Brüll und Bruno Schmid (2005) ist solch eine Konstellation nicht an sich problematisch, sie erfordert jedoch ein Höchstmaß an Sensibilität, Selbsteinschätzung und Selbstkontrolle der Verantwortlichen sowie eine genaue Einschätzung der „Klient*innenbedarfe“.  Das bedeutet, jede Kommunikation, jede Handlung, die ich als Künstlerin an Stelle der Kinder vornehme, birgt die Wahrscheinlichkeit, dass selbst bei bestem Willen Aspekte aus dem Blick geraten, die für die Kinder wichtig sind.

Micha Brumlik (1992) sowie Brüll und Schmid kommen jeweils zu dem Schluss, dass anwaltschaftliches Handeln zu rechtfertigen ist, wenn es bestimmten Maßstäben genügt. Für Brüll und Schmid muss einerseits auf der Grundlage aufgebaut werden, dass Menschen als Menschen gewisse Rechte zustehen, was Kinder miteinschließt. Laut Artikel 13 der UN-Kinderrechtskonvention hat ein jedes Kind das Recht auf freie Meinungsäußerung und darf seinen Gedanken mit selbst gewählten Mitteln, explizit auch mittels Kunstwerken, Ausdruck verschaffen. Zudem muss anwaltschaftliches Handeln stets darauf ausgelegt sein, die Menschen als selbstverantwortliche Mitglieder ihres sozialen Beziehungsgeflechtes zu stärken. Ziel sollte es sein, für jede Konstellation von Versorgung, Pflege und Abhängigkeit eine „Autonomie in Beziehung“ (Brüll/Bohlken 2003) zu erreichen. Dies ist eine möglichst weitgehende Selbstbestimmung unter Berücksichtigung des sozialen Umfelds, in dem Selbstbestimmung erst denkbar und lebbar wird. Eine notwendige Voraussetzung dafür ist eine möglichst genaue Bestimmung der Bedarfe derjenigen, für die man entscheidet. Nur so ist es möglich, tätig zu werden, ohne die Autonomie der Betroffenen mehr einzuschränken als unbedingt nötig.  

Für mich als Künstlerin bedeutet dies, dass ich mir folgende Fragen stellen und diese für die Schüler*innen im Sinne einer „Autonomie in Beziehung“ beantworten muss: 1. Wer darf schreiben? 2. Welche Äußerungen werden als Text, der anderen zugänglich gemacht wird, akzeptiert? 3. Wo darf der Text sein?

Bei der Suche nach Antworten muss ich in meiner Gatekeeperfunktion abwägen, welcher Mitbestimmungsanteil den Kindern zusteht und welcher ihnen abgenommen werden muss. Hier müssen unterschiedliche Faktoren einbezogen werden wie Alter, Entwicklungsstand, Kontext etc., die zudem für jedes teilnehmende Kind individuell reflektiert werden müssen. Nur so können Unterforderung und Überforderung gleichermaßen vermieden werden.

Was bedeutet dies für die Ausgestaltung des Workshops und der Kunstaktion?

  1. Die Auswahl der Teilnehmenden an dem Workshop wird nicht vorher eingeschränkt, sondern richtet sich an alle interessierten Schüler*innen der jeweiligen Schule.
  2. Alle Workshopteilnehmenden wird die Gelegenheit gegeben, Texte zu entwickeln. Die Workshopleitung bemüht sich, so minimal wie nötig in die Genese der Texte einzuwirken, um diesen ein Höchstmaß an Authentizität zu gewähren.
  3. Es wird ein offenes Forum am Ende der Texterstellung veranstaltet: Alle Teilnehmenden, die möchten, dürfen ihre Texte den anderen Teilnehmenden vorstellen. Die Texte werden nicht diskutiert. Jeder Text hat seine eigene Berechtigung, so wie er entstanden ist.
  4. Gemeinsam mit den Kindern wird überlegt, welche der Flächen und Orte, welche die Rheinbahn AG zur Verfügung stellt, für eine Veröffentlichung in Frage kommen würden.
  5. Letztlich obliegt jedoch die Entscheidung und das darin enthaltene Abwägen der Vor- und Nachteile der Publikation des Textes x an Ort y mir als Künstlerin. Deswegen ist es wichtig, die Begründungen und Motivationen der Kinder und Jugendlichen im Workshop möglichst genau zu erheben und zu verstehen.
  6. Dies gilt insbesondere auch, um diese in den Verhandlungen mit der Rheinbahn AG, oder anderen Institutionen, vertreten zu können, die ihre eigenen Interessen in den Prozess einbringen wollen, zum Beispiel eher positive und hoffnungsvolle Botschaften zu transportieren.
  7. Auch bei Reaktionen auf die Kunstaktion kommt mir als Künstlerin eine Gatekeeperfunktion zu. Ich muss abwägen, welche Reaktionen in welcher Weise den Kindern und Jugendlichen zugänglich gemacht werden können. Auch hier ist, wie oben bereits beschrieben, eine individuelle Abwägung je nach Alter und Reife der Autor*innen zu treffen, jedoch mit dem Ziel einer möglichst großen Autonomie.

Im besten Fall entstehen die Texte im Projekt „Ein Stuhl ist kein Stuhl“ im Rahmen einer „Autonomie in Beziehung“, in dem sich die Schüler*innen beim Verfassen und Publizieren als selbstbestimmte Akteur*innen erfahren und deren Texte sich dann auch in der von ihnen gewählten Form an Haltestellen und in Straßenbahnen wiederfinden. 

Dann gelingt es womöglich Sehgewohnheiten zu unterbrechen, indem sie Artikulationen von Menschen in Öffentlichkeiten einschreibt, die sonst dort nicht existieren. Die Kinder und Jugendlichen, die an der Kunstaktion mitwirken, machen die Erfahrung, dass ihre Geschichte gehört wird und fühlen sich als Person gesehen und wertgeschätzt. Das Projekt möchte sie bestärken, auch zukünftig an der öffentlichen Meinungsbildung teilzunehmen und ebenso andere (junge) Menschen zu ermutigen, sich mit ihrer Stimme Gehör im öffentlichen Raum zu verschaffen.

 

  • Brüll, Hans-Martin; Bohlken, Eike (2003): Autonomie in Beziehung als Leitidee für kirchliche Sozialunternehmen, Weingarten: Institut für Bildung und Ethik.
  • Brüll, Hans-Martin; Schmid, Bruno (2005): Anwaltschaftliche Ethik. Theoretischer Ansatz und schulpädagogische Perspektiven, Weingarten: Institut für Bildung und Ethik.
  • Brumlik, Micha (1992): Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe, Bielefeld: KT Verlag.
  • Vorneweg, Vera (2020): Ein Stuhl ist kein Stuhl. In: Kri(e)senglück, Hemmingen: Verlag der Kreativmacherei

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