International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Einsamkeit ›trotz‹ oder ›durch‹ Digitalisierung? Eine soziologische Betrachtung

von Anne Deremetz

12.07.2021 ·Die Covid-19-Pandemie hat uns vor Augen gehalten, wie schnell soziale Selbstverständlichkeiten nicht mehr so selbstverständlich sind: Im Zuge von Social Distancing wurden viele Personengruppen von ihren bisherigen sozialen Netzwerken und Kontakten isoliert. Den meisten blieb nur die Kommunikation im Digitalen. Die physische Distanz zu Anderen konnte durch die Digitalisierung zumindest etwas abgefedert werden. Dennoch zeigt sich ein Anstieg von Einsamkeitsgefühlen. Manfred Spitzer spricht sogar von einer »unerkannten Krankheit« (Spitzer 2019), die heutige Gesellschaften befällt und es stellt sich die Frage: Hat Digitalisierung einen Einfluss auf den Anstieg von Einsamkeitsgefühlen, und was bedeutet das für die Gestaltung von Technologien zur Überwindung von Einsamkeit?

Soziologisch lässt sich Einsamkeit klassisch als soziale Armut beschreiben: Einerseits als quantitative Armut an Kontakten, andererseits als qualitative Armut, also ein Mangel an den richtigen oder wertvollen Kontakten. Mit diesem Mangel an Kontakt geht oft eine fehlende Unterstützung einher, sowohl physisch als auch psychisch, seelisch, emotional, sozial, etc. (vgl. Dreitzel 1970: 7; Hillmann 2007: 172). Davon ist das Allein-Sein zu unterscheiden: Alleinsein wird als wünschenswerter, selbstgewählter, temporärer Zustand aktiv von Einzelnen herbeigeführt, wohingegen Einsamkeit ein negativ besetzter, von außen auferlegter – oft dauerhafter – Zustand ist.

Drei zentrale Entwicklungen kommen für eine Erklärung der Veränderung von Einsamkeitsphänomenen infrage: die Individualisierung, die Flexibilisierung der Arbeitswelt und die Digitalisierung. Wie Weihgold in ihrem Beitrag zum Alleinleben in Zeiten von Corona dargestellt hat, geht mit der Individualisierung zunächst ein Herauslösen aus bisherigen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Strukturen, Zwängen und Verpflichtungen einher. Das hat allerdings Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu Anderen: Sie werden loser, flexibler aber dadurch auch instabiler. Individualisierungsprozesse zeigen damit Tendenzen sozialer Desintegration, was zu sozialer Isolation und Einsamkeit führen kann.

Als zweite Entwicklung ist die Flexibilisierung der Arbeitswelt zu nennen, also häufige Arbeitsplatzwechsel und Umzüge, was wiederum zur Herauslösung aus bisherigen analogen Netzwerken führt. Durch die ständigen Wechsel lohnt es sich oft nicht mehr, in eine soziale Eingebundenheit zu investieren. Kaum hat man sich an die Menschen gewöhnt, ziehen sie auch schon wieder weg. Soziale Wurzeln zu schlagen wird dadurch immer schwieriger.

Im Digitalen haben wir es – drittens – aber auch mit neuen Formen und Möglichkeiten von Sozialität zu tun. Wir können von Fremden Bestätigung erfahren, mit Freunden auf Distanz kommunizieren, uns über Hobbies und Themen austauschen. Menschen, die sich im ›Analogen‹ womöglich einsam fühlten, weil Ihnen der soziale Kontakt zu Gleichgesinnten fehlte, können durch das Digitale ihre Einsamkeit überwinden. Vor allem Minderheiten und benachteiligte Personengruppen profitieren von diesen Support- und Empowerment-Netzwerken. Für immobile Menschen bringt das Web 2.0 neue Möglichkeiten der sozialen Vernetzung. Digitalisierung kann somit auf der einen Seite als Chance und Instrument gegen die soziale ›Vereinsamung‹ begriffen werden.

Auf der anderen Seite wird insbesondere der Wegfall ›analoger‹ Kontakte durch das Web 2.0 beklagt, die mit Folgen der Vereinsamung einhergingen. Auch steigert sich im Web 2.0 der soziale Vergleich enorm, wodurch es verstärkt zu Einsamkeitsgefühlen kommen kann. Dies zeigt sich besonders für Heranwachsende problematisch: Durch soziale Medien zeigt sich nicht nur, wer beliebter und unbeliebter ist, sondern Beliebtheit und Anerkennung können auch metrisch durch Likes, Follower, etc. gemessen und für alle sichtbar werden.

Zudem trägt auch der Digital Divide (Zillien und Haufs-Brusberg 2014) dazu bei, dass bestimmte Personengruppen von den Möglichkeiten der Sozialität im Web 2.0 ausgeschlossen werden. Jacob spricht diesbezüglich von einer digitalen Klassengesellschaft (Jacob 2017).

Was digitale Netzwerke im Gegensatz zu analogen Netzwerken auch nicht leisten können, ist physische und materielle Unterstützung: Wer erledigt für mich Einkäufe, wenn ich mir ein Bein gebrochen habe? Wer geht für mich zur Apotheke, wenn ich mich in Quarantäne befinde?

Damit verbunden, und was neuerdings die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich richtet, ist die Bedeutung von körperlichem Kontakt bzw. der Mangel an Körperkontakt und dessen Einfluss auf das Phänomen Einsamkeit. Demnach führe nicht unbedingt der Mangel an sozialen Kontakten zu einem erhöhten Einsamkeitsrisiko, sondern eher der Mangel an körperlichen Kontakten und Geborgenheitsempfindungen. Man könnte es auch ›haptische Einsamkeit‹[1] nennen.

Zum Schluss bleiben ein Fazit und neue Fragen:

Einsamkeit zeigt sich im Analogen wie im Digitalen in unterschiedlichen Formen. Sie ist sowohl als ein individuelles als auch als ein gesellschaftliches Symptom zu begreifen. Die Digitalisierung kann hierfür einerseits die Lösung, andererseits selbst das Problem darstellen. Insbesondere die ›haptische Einsamkeit‹ wird mit fortschreitender Digitalisierung zu einem zunehmenden Phänomen. Eine Umarmung kann weiterhin noch nicht digital hergestellt werden.

Wie kann man nun der steigenden Einsamkeit begegnen und was bedeutet das für die Gestaltung digitaler Technologien?

Ein ›analoger‹ Lösungsversuch könnte darin bestehen, die Vereinzelung des Menschen als Chance zu begreifen, Sozialität anders zu denken und sich diesbezüglich andere Fragen zu stellen: Warum sind Intimität und Geborgenheit weiterhin vor allem Familien und romantischen Dyaden vorbehalten? Warum sind Kuschelparties bisher nur in Großstädten zu finden? Wie können soziale Kontakte erweitert werden, um nicht nur seelischen und emotionalen, sondern auch intimen Support zu leisten?

›Digitale‹ Lösungsversuche können sich zeigen, wenn wir danach fragen, wie uns das Digitale zur Überwindung von Einsamkeit helfen kann. Wie können Künstliche Intelligenz oder AI dazu genutzt werden, Haptik auch im Digitalen zu ermöglichen? Könnte VR-Porn ein erster Schritt in diese Richtung sein? Neben dem zunehmenden Drang nach Digitalisierung muss allerdings auch die Art und Weise im Sinne der genutzten Technologien in den Blick genommen werden. Sollen digitale Technologien menschlichen Körperkontakt überhaupt imitieren oder zukünftig ersetzen können? Welche ethischen Aspekte berührt die Nutzung solcher Technologien und trägt die Nutzung zur Überwindung der Einsamkeit im Sinne des Digital Divide nicht noch mehr zur Verstärkung von Einsamkeit bei? Sollen überhaupt Lösungen im Digitalen forciert, im Analogen vernachlässigt werden? Fragen, die zukünftig zu stellen und zu bearbeiten sind.

Kurz-Link zum Teilen: https://uni-tuebingen.de/de/214324

 

Literatur:

Dreitzel, Hans Dieter (1970): Die Einsamkeit als soziologisches Problem. Zürich: Verlags AG Die Arche.

Hillmann, Karl-Heinz (2007): Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Kröner.

Jacob, Daniel (2017): »Die digitale Klassengesellschaft«. In: Daniel Jacob/Thorsten Thiel (Hg.). Politische Theorie und Digitalisierung. Baden-Baden: Nomos, S. 27–43.

Spitzer, Manfred (2018): Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. München: Droemer.

Zillien, Nicole/Haufs-Brusberg, Mare (2014): Wissenskluft und Digital Divide. Baden-Baden: Nomos.

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[1] Deremetz, Anne (i. Ersch.): »Einsamkeitsforschung und Digitalisierung: Gibt es eine digitale Einsamkeit?«. In: Block, Katharina et al. (Hrsg.) 10 Minuten Soziologie. Digitalisierung. Bielefeld: transcript Verlag.