Department of Computer Science

Die "Rechen-Uhr"

Die Geschichte der Rechenmaschine beginnt im Grunde schon 1617, denn in jenem Jahr begegnete Wilhelm Schickard dem zwanzig Jahre älteren Johannes Kepler. Kepler war längst eine wissenschaftliche Berühmtheit und als Mathematiker im fernen Linz tätig, musste jedoch wiederholt in die schwäbische Heimat reisen, um der Mutter in einem langwierigen Hexereiprozess beizustehen. Man verstand sich augenscheinlich auf Anhieb. Kepler war vom handwerklichen und gestalterischen Geschick des jungen Theologen, damals noch Diakon in Nürtingen, so angetan, dass er ihn sogleich mit der Illustration seines Opus magnum, Harmonice mundi, betraute, das 1619 erschien. Auch was die mathematischen Fähigkeiten betraf, war Kepler voll des Lobes. Schickard wiederum erkannte, wieviel Mühe Kepler auf die Berechnungen der Planetenbahnen verwendete – und versuchte sein handwerkliches und mathematisches Know-How zu kombinieren, um dem Freund die Arbeit zu erleichtern.

Am 20. September 1623 konnte Schickard schließlich Kepler den Durchbruch vermelden (auf Latein, wie sich das unter Akademikern gehörte):

Ferner habe ich dasselbe, was du rechnerisch getan hast, neulich mechanisch versucht und habe eine Maschine gebaut, die aus elf vollständigen und sechs verstümmelten (Zahn-)Rädchen besteht und die eingegebenen Zahlen sofort automatisch verrechnet, addiert, subtrahiert, multipliziert und dividiert. Du würdest hell auflachen, wenn du hier wärest und sehen könntest, wie sie die Linken der Zehner oder Hunderter beim Überschreiten von selber erhöht oder beim Subtrahieren etwas von ihnen etwas weggenommen wird.

Doch die Rechenmaschine sollte Kepler nie erreichen. Im folgenden Jahr schrieb Schickard geknickt an Kepler:

Auch hatte ich dafür gesorgt, dass für dich bei unserem Joh. Pfister ein Exemplar hergestellt würde, aber dieses ist halbfertig zusammen mit anderen Dingen von mir, vor allem einigen Kupfertafeln vor drei Tagen in einem Feuer verbrannt, das dort nachts unvorhergesehenermaßen ausbrach.

Über einen weiteren Fertigungsversuch ist nichts bekannt. Kepler starb 1630 auf Reisen plötzlich an einem heftigen Fieber. Schickard hatte da selber nur noch fünf Jahre zu leben. Die nach Tübingen eingeschleppte Pest löschte 1635 nicht nur Schickard, sondern einen großen Teil seines Umfelds aus und ließ nur wenige Spuren seiner Rechenmaschine zurück. Die Mitmenschen, die dem Pest-Tod entgingen, hatten verständlicherweise andere Sorgen.

Wiederentdeckung und Nachbau

1642, sieben Jahre nach Schickards Tod,  stellte Blaise Pascal seine erste "Pascaline" fertig. Dank des Zehnerübertrags beim Addieren – Subtraktion war nur mittels Komplementmethode möglich – gilt die Pascaline in den folgenden drei Jahrhunderten als erste echte Rechenmaschine und Pascal als ihr Erfinder. Dabei war Schickards Rechenmaschine in dieser Zeit nicht vollständig vergessen. Dank der erhalten gebliebenen Korrespondenz mit Kepler wurde die Rechenmaschine immer wieder als Kuriosum beiläufig erwähnt. Aber die Spuren waren zu bruchstückhaft und auch die Zweifel zu stark, dass diese Rechenmaschine tatsächlich existiert und zuverlässig funktioniert haben könnte. Dagegen existierte und funktionierte die Pascaline ganz ohne Zweifel.

Die Sache geriet erst durch den Stuttgarter Bibliothekar und Kepler-Experten Franz Hammer wieder ins Rollen. Der hatte eine bislang unentdeckte Skizze der Rechenmaschine in Keplers Unterlagen gefunden, die dort thematisch unpassend eingeklebt worden war. Zudem erinnerte sich Hammer an Notizen Schickards in den Beständen der Landesbibliothek Württemberg, die die Funktionsweise der Rechenmaschine wesentlich ausführlicher beschreiben. Seit 1912 waren die schon veröffentlicht, aber niemand hatte bisher so recht Notiz davon genommen.

Trotzdem ratlos, wie diese Puzzlestücke zusammenzufügen seien, stellte Hammer den Fund 1957 in einem Vortrag am Mathematischen Forschungsinstitut Oberwolfach vor. Einer der Anwesenden war der Philosophieprofessor Bruno Baron von Freytag Löringhoff, der sich sogleich des Puzzles annahm und "bald darauf die im Grunde ganz einfache Konstruktion der Maschine [begriff]" (Baron von Freytag Löringhoff 1958). 1960 entstand schließlich der erste Nachbau und bewies endgültig deren Funktionstüchtigkeit – und dass die Pascaline eigentlich eine schwäbische Vorgängerin hatte. Heute gibt es zahlreiche Nachbauten, u.a. im Stadtmuseum Tübingen, in der Schausammlung des Wilhelm-Schickard-Instituts und im Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen.

Funktionsweise

Wie sieht nun die "im Grunde ganz einfache Konstruktion" (Baron von Freytag Löringhoff) der Rechenmaschine aus? Zunächst muss man wissen, dass die Rechenmaschine aus zwei mechanisch vollständig getrennten Komponenten besteht: die eine Komponente ist für die Addition und Subtraktion (mit dem Zehnerübertrag) zuständig und befindet sich im unteren Teil, während die andere Komponente im oberen Teil die Multiplikation und Division unterstützt.

Die eigentliche Magie passiert im Addierwerk, wenn über die 9 hinaus summiert (oder über 0 hinaus subtrahiert) wird. In diesem Fall – aber nur dann – muss die nächsthöhere Stelle ebenfalls um 1 inkrementiert werden – der schon erwähnte Zehnerübertrag. Schickard löst dieses Problem genial einfach: Es gibt für jede Stelle (außer der letzten Stelle) zwei Zahnräder mit 10 Zähnen, die ineinandergreifen. Auf dem jeweils linken Zahnrad ist dabei ein einzelnes Zähnchen montiert, das beim Zehnerübertrag das rechte Zahnrad der nächsten Stelle bewegt. (Die beiden Zahnräder benachbarter Stellen müssen also in der nebenstehenden Rekonstruktion in Richtung der Achse versetzt sein, um sich nicht in die Quere zu kommen.)

Das Addierwerkt enthält also mindestens 11 vollständige und 5 "verstümmelte" Zahnräder, die perfekt ineinander greifen müssen, damit die Maschine bei mehrfachem Zehnerübertrag (im schlimmsten Fall bei 99999 + 1) nicht blockiert. Mit den Fertigungsmethoden zu Schickards Zeit war dies nicht einfach zu erreichen und Schickard beklagte sich auf einem erhaltenen Notizzettel bei seinem "Mechanicus" Johann Pfister wegen fehlender Präzision: Die zän seind gar vngleich und vnfleißig …

Damit erklärt sich auch, warum die Rechenmaschine "nur" im sechsstelligen Bereich rechnen konnte. Kepler hätte in seinen Berechnungen durchaus für weitere Stellen Verwendung gehabt.

Die obere Komponente der Rechenmaschine, die beim Multiplizieren und Dividieren hilft, ist im Vergleich dazu recht simpel. Sie besteht aus sechs Walzen, auf dem das kleine Einmaleins aufgedruckt ist – eine Art Spickzettel. Um zu multiplizieren (und mutatis mutandis zu dividieren) muss man die Faktoren ziffernweise wie bei der schriftlichen Mulitiplikationen abarbeiten: Zunächst wird ganz oben der eine Faktor eingegeben, indem die Walzen entsprechend gedreht werden. Die Eingabe des anderen Faktors erfolgt dagegen ziffernweise von rechts nach links, indem man den dazugehörigen darunterliegenden Schieber (von 2 bis 9 beschriftet) einrückt. Dadurch werden in kleinen Fensterchen die Produkte der Ziffern sichtbar, die auf den dahinter liegenden Walzen aufgedruckt sind. Die angezeigten Ziffern werden schließlich im unteren Addierwerk ebenfalls von rechts nach links durch drehen der Knöpfe aufsummiert.

Literaturhinweise
Erklärung und Simulation