Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters

Grabungen und Forschungen 1987-2012

Die neuen Forschungen hatten von Beginn an zwei Schwerpunkte: Ergänzende Untersuchungen in der schon früher freigelegten Ruine der Burg von Troia und die Frage nach einer „Unterstadt“, der weitgehend unbekannten Besiedlung außerhalb der Burg. Dazu kamen die Erforschung der Landschaft, die Erhaltung, Restaurierung und Präsentation der Ruine und der Funde für die Öffentlichkeit sowie die unvermeidliche Frage nach Verbindungen zwischen der archäologischen Fundstelle und der von Homer erzählten Troia-Sage.

In der Burg wurden ausgehend von Schliemanns großem Nord-Süd-Graben alle Phasen nachuntersucht, die gesamte Stratigraphie überprüft und mit der 14C-Methode erstmals absolut datiert. Gerade an dieser Schlüsselfundstelle für vergleichende Chronologie schwankten zuvor die Schätzungen für das Alter einzelner Perioden des bronzezeitlichen Troia zum Teil um mehrere hundert Jahre.

Auch sonst wurden in interdisziplinärer Zusammenarbeit Untersuchungen mit naturwissenschaftlichen Methoden durchgeführt, die bei den älteren Grabungen nicht oder nur in geringem Maß zur Verfügung standen: Materialanalysen zur Herkunftsbestimmung von Metallfunden und Keramik, Untersuchungen von Tierknochen und Pflanzenresten, die Aufschluss über Ernährung, Landwirtschaft und Ökologie geben, anthropologische Bearbeitung der – allerdings wenigen – Bestattungen.

Neu ausgegraben wurden in der bereits von Schliemann und Dörpfeld freigelegten Zitadelle die frühen Phasen von Troia II aus der Zeit zwischen Troia I und dem Bau der großen Megara, ein Megaron aus Troia II-III, ein Stück des wenig bekannten Troia V und an der Burgmauer Häuser aus Troia VII. Hier tauchte 1995 der erste und bisher einzige bronzezeitliche Schriftfund auf, ein bikonvexes Siegel mit luwischen Hieroglyphen. In der südlichen Fortsetzung des Schliemanngrabens konnte nachgewiesen werden, dass sich die frühbronzezeitliche Besiedlung außerhalb der Burgmauern von Troia II fortsetzt.

Mit geophysikalischer Prospektion (Magnetik, Bodenradar, elektrischer Widerstand) wurden große Flächen auf dem Plateau südlich und östlich der Burg untersucht. Damit wurde nicht nur der Stadtplan des hellenistisch-römischen Ilion nachgezeichnet, sondern bereits 1992 eine lineare Anomalie vierhundert Meter südlich der Burg entdeckt, die sich bei der anschließenden Grabung als ein spätbronzezeitlicher, in den Felsen geschlagener Verteidigungsgraben entpuppte. Bis heute konnte dieser Graben, der das Plateau südlich der Burg umschließt, auf fast einen Kilometer Länge nachgewiesen werden. In seinem Verlauf wurden zwei Tore ausgegraben. Darüber hinaus wurde ein weiterer, weiter außen liegender und wahrscheinlich etwas jüngerer Graben entdeckt. Zusammen mit punktuellen Aufschlüssen aus Grabungen im ganzen Stadtgebiet und den Ergebnissen eines Surveys (einer systematischen Aufsammlung der an der Oberfläche liegenden Funde) weiß man nun, dass die spätbronzezeitliche Burg von Troia von einer mehr als dreißig Hektar großen befestigten Außensiedlung, einer „Unterstadt“, umgeben war. Dieses Areal war wohl zur Gänze bewohnt, wenn auch bisher nur wenige, aber dicht aneinander gebaute Häuser nahe der Zitadelle nachgewiesen wurden. Da aber der die Unterstadt umgebende Graben gegen Ende der Troia VI Periode verfüllt und weiter nach außen verlegt wurde, liegt es nahe zu vermuten, dass der Raumbedarf wuchs.

An mehreren Stellen wurde die Unterstadt unmittelbar außerhalb der Burgmauer von Troia VI untersucht, von der Nordostbastion im Osten bis zur großflächigen Ausgrabung unter dem griechisch-römischen Heiligtum im Westen. Überall kamen spätbronzezeitliche Häuser, an einer Stelle auch Gräber, zum Vorschein. Besonders eindrucksvoll ist das Terrassenhaus aus Troia VIIa im Westen. Hier kamen auch reiche Funde zu Tage, unter anderem eine Statuette und ein Gefäß in Form eines Stieres, die es sogar möglich erscheinen lassen, dass an der Stelle des späteren Heiligtums bereits in der Bronzezeit kultische Handlungen stattfanden. Vor allem die Untersuchung der Keramik an diesem Ort legt nahe, dass Troia nach dem Ende der Bronzezeit nie völlig verlassen war. Bisher war man von einer etwa vierhundert Jahre dauernden Unterbrechung der Besiedlung ausgegangen.

Etwa auf halbem Weg zwischen dem Graben und der Burg wurde bereits in der Frühbronzezeit eine Befestigung errichtet. Es handelt sich um die in den Felsen geschlagenen Unterbauten einer Doppelpalisade, eines „Bollwerks“, aus Troia II. Somit ist auch die Existenz einer frühbronzezeitlichen Unterstadt nachgewiesen. Außerhalb der Zitadelle konnten aus dieser Periode Hausreste mit reichem Fundinventar untersucht werden.

Die neuen Ergebnisse der Archäologie im Allgemeinen und der Fund eines hethitischen Bronzesiegels mit einer Inschrift in luwischen Hieroglyphen im Besonderen gaben Anlass, mögliche Verbindungen zwischen der Archäologie in Troia, dem griechischen Epos und schriftlichen Quellen zur Geschichte des 2. Jahrtausends v. Chr. neu – häufig auch kontrovers – zu diskutieren. Hethitische Keilschrifttafeln nennen nämlich im Zusammenhang mit dem nordwestlichen Vasallenstaat Wilusa Namen, die ganz ähnlich auch in der Ilias vorkommen. Orts- und Personennamen der Sage kommen also in von ihr unabhängigen Schriftquellen des 2. Jahrtausends v. Chr. vor. Troia kann aufgrund dieser und anderer Indizien die Hauptstadt dieses Landes Wilusa (Ilios) gewesen sein. Mykenische Griechen und ein Vasallenstaat des Hethiterreiches konnten hier an der Grenze ihrer Einflusssphären konfliktreich aufeinandergeprallt sein. Eine ferne Erinnerung daran könnte das griechische Epos bewahrt haben. Diese besonders von Manfred Korfmann in enger Zusammenarbeit mit dem Hethitologen Frank Starke und dem Gräzisten und Homer-Spezialisten Joachim Latacz entwickelte Interpretationslinie fand bei vielen, aber nicht allen Fachleuten Zustimmung. Sie hat jedoch den Vorzug, alle Quellen – Archäologie, Texte des 2. Jahrtausends v. Chr., griechische Sagenüberlieferung – in einem plausiblen, letztlich aber auf Grund der lückenhaften Quellenlage nicht beweisbaren Narrativ zu verbinden.

Außer in Troia selbst wurden in Zusammenarbeit mit dem Museum Çanakkale Notgrabungen am Beşik-Sivritepe und Kumtepe durchgeführt, weil diese Fundstellen durch Raubgrabungen und Planierungen bedroht waren. Dabei konnten Siedlungsreste und Gräber aus dem Chalkolithikum, also aus der Zeit vor dem Beginn der Besiedlung Troias, ausgegraben werden. Weiterhin wurde die Veränderung der Troia umgebenden Landschaft, vor allem der Küstenlinie und der Flüsse, untersucht. Es stellte sich heraus, dass Troia I direkt am Ufer einer Meeresbucht gegründet wurde, die nach und nach verlandete.

Jährlich wurden in Troia Maßnahmen zur Erhaltung, Restaurierung und Präsentation der Fundstelle durchgeführt. Es wurde ein Besucherweg mit mehrsprachigen Informationstafeln angelegt. Über Teilen der Ruine wurde ein Schutzdach errichtet. Die lokalen Behörden wurden bei der Dokumentation und Unterschutzstellung von Fundstellen in der Umgebung, mit dem Ankauf von Grundstücken und bei der Erstellung eines Tourismuskonzepts unterstützt., Ebenso half das Team des Troia-Projekts bei der Planung des Historischen Nationalparks Troia, der 1996 eröffnet wurde und beim Antrag des türkischen Staates bei der UNESCO, der dazu führte, dass Troia 1998 auf die Liste des Weltkulturerbes gesetzt wurde.

Der Öffentlichkeit wurde Troia mit all seinen Aspekten – Archäologie, Geschichte, Sage – in der großen Ausstellung „Troia – Traum und Wirklichkeit“ präsentiert, die 2001/2002 in Stuttgart, Braunschweig und Bonn und anschließend in kleinerer Form in Istanbul zu sehen war.

Die Forschungen in Troia wurden unter anderem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Land Baden-Württemberg und die Universität Tübingen, den Taft Semple Fund (University of Cincinnati), die „Freunde von Troia“ im Universitätsbund Tübingen, die „Friends of Troy“ (Cincinnati), das Deutsche Archäologische Institut (DAI) sowie zahlreiche weitere Personen, Institutionen und Firmen gefördert.