Uni-Tübingen

Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 4/2020: Alumni Tübingen

„Tübingen – kurze Wege und viele Möglichkeiten“

Alumnus Andreas Sentker über seine Studienzeit in Tübingen, seine Verbundenheit zur Stadt, seine Arbeit als Wissenschaftsjournalist und den Erfolg des Podcasts ZEIT Verbrechen

Andreas Sentker studierte von 1986 bis 1994 an der Universität Tübingen Biologie und Rhetorik.

Er arbeitet seit 1992 als Wissenschaftsjournalist, unter anderem für die Stuttgarter Zeitung und die tageszeitung. 1995 kam er zur Wochenzeitung DIE ZEIT, seit 1996 ist er dort Redakteur im Ressort Wissen und seit 1998 leitet er das Ressort Wissen. 2001 hat er die Veranstaltungsreihe ZEITForum der Wissenschaft mitbegründet, die er viermal im Jahr moderiert. Sentker ist seit 2004 Herausgeber des Magazins ZEIT Wissen und moderiert seit 2018 den Podcast ZEIT Verbrechen, der zu den erfolgreichsten deutschen Podcasts zählt. In dem Podcast spricht er mit Sabine Rückert, der stellvertretenden Chefredakteurin und langjährigen Gerichtsreporterin der ZEIT, über große Kriminalfälle.

Seit 2019 ist Andreas Sentker geschäftsführender Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT und koordiniert die strategische Entwicklung der Bereiche Wissenschaft und Bildung.

Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrem Studium in Tübingen?

Ich habe Biologie oben auf der Morgenstelle studiert und habe nach dem Vordiplom angefangen, Rhetorik unten im Brechtbau zu studieren. Ich erinnere mich an ein Studium zwischen zwei Welten, den Naturwissenschaften auf dem Berg und den Geisteswissenschaften im Tal. Die Idee, die ich immer verfolgt habe, war, dass es Brücken zwischen diesen beiden Welten geben muss. Heute gibt es viele solcher Brücken, damals gab es sie noch nicht.

Während meiner Studienzeit bot Tübingen für mich vor allem kurze Wege und viele Möglichkeiten. Ich konnte viele Dinge ausprobieren. Es gab am Ende meines Studiums eine Zeit, da hatte ich bereits einen Lehrauftrag am Leibniz Kolleg, habe für das Schwäbische Tagblatt geschrieben, Kinoprogramm gemacht und studiert. Das ging, weil ich mit dem Fahrrad vom Schwäbischen Tagblatt in fünf Minuten am Kino Museum und in zehn Minuten am Rhetorischen Seminar sein konnte.

Wieso haben Sie sich für ein Studium der Biologie und Rhetorik in Tübingen entschieden?

Bevor ich mein Studium begonnen habe, hatte ich das große Glück, Student am Leibniz Kolleg in Tübingen zu sein. Das Kolleg bietet ein einjähriges Orientierungsstudium mit propädeutischen Kursen an. Eine großartige Einrichtung, dort habe ich unter anderem Rhetorik studiert. Ich bin dann in Tübingen hängen geblieben. Aber nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil ich gemerkt habe, dass die Universität genau das bietet, was ich gesucht habe. Die Naturwissenschaften haben damals in Tübingen stark an Bedeutung gewonnen, vorher war die Uni eher für ihre Geisteswissenschaften und Sprachwissenschaften bekannt. Es war eine spannende Aufbruchsstimmung - also bin ich geblieben.

Haben Sie heute immer noch Verbindungen nach Tübingen?

Ja, sehr intensive. Ich bin immer noch verliebt in die Stadt. Als Studentin oder Student merkt man das vielleicht nicht so, aber wenn man zurückkommt, sieht man, dass Tübingen eine enorme Lebensqualität bietet. Ich bin auch der Universität weiterhin verbunden, weil ich im Beirat des Leibniz Kollegs sitze. Ich bin zudem seit vielen Jahren Mitglied im Kuratorium der Tübinger Max-Planck-Institute. So führen mich Kuratoriums- und Beiratssitzungen oft in die Stadt, was mich immer sehr freut.

Was raten Sie heutigen Studierenden im Hinblick auf Studium und Berufswahl?

Leidenschaft. Strategische Erwägungen machen meistens nicht glücklich. Studiert die Fächer, die euch wirklich interessieren! Leidenschaft ersetzt nicht Kompetenz, aber sie sorgt dafür, dass Kompetenz leidenschaftlich eingesetzt wird. Und das führt zu herausragenden Ergebnissen. Das ist mein wichtigster Rat.

Wann war für Sie klar, dass es für Sie in Richtung Journalismus gehen soll?

Gegen Ende des Studiums. Ich habe meine Diplomarbeit über grüne Gentechnik, also Gentechnik an Pflanzen, geschrieben. Mein erster Artikel hat sich genau mit diesem Thema beschäftigt. Den Artikel habe ich der Stuttgarter Zeitung angeboten. Und dann bin ich in eine großartige Schule des Journalismus gegangen, nämlich zum Schwäbischen Tagblatt. Nie wieder habe ich so schnell so viel gelernt. Man wurde morgens losgeschickt und hatte drei Termine. Das Entscheidende war, schnell und präzise zu arbeiten, sich zu trauen, auf Menschen zuzugehen, und im Artikel ihre Namen richtig zu schreiben.

Was fasziniert Sie am Wissenschaftsjournalismus?

Ich glaube, gerade jetzt wird deutlich, dass Wissenschaftsjournalismus so wichtig ist wie nie zuvor. Die Corona-Krise sorgt dafür, dass wir science on speed erleben, also eine extrem beschleunigte Wissenschaft. Die Wissenschaft zeigt einerseits gerade eine großartige Leistung und es fließt so viel Geld wie sonst nie. Es zeigt sich aber anderseits auch, wie wichtig es ist, Wissenschaft kritisch zu begleiten. Denn wer Gas gibt, macht auch Fehler und wir haben am Anfang der Pandemie eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Spekulationen und schlechten Studien erlebt. Inzwischen haben viele Menschen verstanden, was wissenschaftliche Qualitätskontrolle bedeutet. In der heutigen Zeit ist Wissenschaft mitten im Zentrum der gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Debatte angekommen.

Sie sind Leiter im Ressort Wissen und Herausgeber des Magazins ZEIT Wissen? Wie sieht ihre Arbeit aus – bleibt da noch viel Zeit zum selbst schreiben?

Kein Tag ist wie der andere. Es ist eine täglich neue Mischung aus vielen Aufgaben. Ich bin Herausgeber, dabei begleite ich ein Magazin, gebe Rat, stehe für Gespräche zur Verfügung, aber das ist eine eigene Mannschaft und in deren alltägliche Arbeit mische ich mich wenig ein. Ich leite gemeinsam mit meinem Kollegen Manuel Hartung das neue Großressort WISSEN, vereint aus den beiden Ressorts WISSEN und CHANCEN. Das ist eine Arbeit, die aus vielen Konferenzen und Gesprächen besteht. Ich habe außerdem eine Art neues Hobby. Sabine Rückert, die stellvertretende Chefredakteurin und langjährige Gerichtsreporterin der ZEIT, und ich nehmen gemeinsam einen Podcast auf. Die letzten beiden Wochen habe ich außerdem mit digitalen Veranstaltungen zu Themen wie Hochschule und Bildung verbracht. Sie ersetzen die vielen Bühnenformate, in denen wir schon seit vielen Jahren Journalismus live betreiben. Mein Tag ist also bunt gemischt. Artikel schreiben ist auch ein Teil meiner Arbeit, aber inzwischen ein deutlich kleinerer als am Anfang.

Mit ihrer Kollegin Sabine Rückert nehmen sie den Kriminalpodcast ZEIT Verbrechen auf, der zu den erfolgreichsten deutschen Podcasts zählt. Wie sieht ihre Vorbereitung für den Podcast aus?

So sparsam wie möglich. Nicht weil ich keine Zeit hätte oder mir keine Zeit nehmen würde, sondern das ist unser Prinzip. Sabine stellt mir jeweils den Text zur Verfügung, der in der ZEIT erschienen ist. Wir erzählen immer Geschichten, die für die ZEIT recherchiert wurden. Diesen Text lese ich und dann nehme ich mir genau ein Blatt Papier, das ich in drei Spalten teile. In der mittleren Spalte steht alles, was zum Fall gehört. Wann hat der Mord stattgefunden? Wo hat er stattgefunden? Wer war beteiligt? Wie haben die Ermittlungsbehörden gearbeitet? Dann gibt es noch zwei Spalten zu handelnden Personen und zu den grundlegenden Themen hinter der Tat. Es gibt auf diesem Blatt Papier aber keine einzige vorbereitete Frage. Es gibt keine abgestimmte Dramaturgie, kein Drehbuch. Wir beginnen einfach, miteinander zu sprechen. Wir führen ein echtes, authentisches Gespräch.

Wie überrascht waren Sie über den Erfolg des Podcats?

Natürlich war ich überrascht. Wir hatten am Anfang nur drei Folgen zur Probe geplant. Die Idee zum Podcast kam von Jochen Wegner, dem Chefredakteur von ZEIT Online. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir gleich bis an die Spitze durchstarten. Es gibt eine Faszination des Verbrechens, das ist ein Faktor für diesen Erfolg. Auch das Authentische unseres Gesprächs spielt eine wichtige Rolle, worauf ich vorhin schon anspielte. Also ein echtes Interesse aneinander und an dem Fall, an den Opfern, an den Tätern, dem man zuhört. Ich denke aber auch, dass Sabine Rückert als role model eine wichtige Rolle spielt. Sabine ist eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die klar sagt, was sie denkt und damit ist sie auch eine Art Vorbild. Unsere Zuhörerschaft ist nämlich zu 65% weiblich und der Altersdurchschnitt der Mehrheit unserer Zuhörerinnen liegt zwischen 25 und 28 Jahren.

Was denken Sie, woher kommt die Neugier am Verbrechen?

Ich glaube, es ist eine Faszination, die man sich leisten kann, wenn man eigentlich behütet lebt. In einem Kriegsgebiet würden wir diese Faszination des Bösen wahrscheinlich nicht finden. Es ist das wohlige Schaudern vom eigenen sicheren Sofa aus. Es gibt aber auch noch einen zweiten Faktor: Wir versuchen diese Verbrechen nicht als Voyeure zu erzählen – möglichst schauerlich – sondern wir versuchen an diesen Extremen menschlichen Erlebens zu erzählen, was die Natur des Menschen ist. Was sagen diese Verbrechen über die conditio humana, über die Bedingungen des Menschseins aus? Die Frage nach dem Menschsein ist es, die mich antreibt - in allen Facetten meiner Arbeit.

Das Gespräch führte Alisa Koch