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Newsletter Uni Tübingen aktuell Nr. 3/2024: Uni intern

„Wir sind richtige Datenmanager geworden“

UB-Leiterin Regine Tobias über die Bibliothek im digitalen Zeitalter

„Informationsinfrastrukturen“ und „Datenmanagement“ sind Schlüsselbegriffe, wenn Regine Tobias über ihre Pläne für die Universitätsbibliothek (UB) spricht. Im Januar hat Tobias die Leitung der UB übernommen. Mit verbessertem digitalem Informationsmanagement will sie die Angebote der Bibliothek als forschungsnahem Dienstleister modernisieren. „Es tut mir leid, dass ich das so abstrakt über meinen Beruf reden muss,“ sagt sie entschuldigend – dabei tut sie das mit Begeisterung.

Worauf freuen Sie sich am meisten auf dem Weg zur Arbeit?

Ich freue mich sehr, dass ich zu Fuß gehen kann. Ich wohne direkt neben der Bibliothek, fünf Minuten entfernt. Ich genieße die kurzen Wege hier in Tübingen.

Zur UB gehört mehr als nur die Gebäude in der Wilhelmstraße. Wie haben Sie sich einen Überblick verschafft, wofür sie zuständig sind?

Hier im Gebäude verlaufe ich mich immer noch in den Hinterräumen und bin noch nicht in allen letzten Winkeln gewesen. Ich kenne die Benutzungsbereiche und die meisten Arbeitszimmer und ich habe angefangen, die ersten dezentralen Bibliotheken zu besuchen: Brechtbau, juristische Bibliothek, Morgenstelle. Wir sind in der ganzen Stadt verteilt – das Ziel ist, dass ich im ersten Jahr einmal überall war.

Ursprünglich ist eine Bibliothek ein Aufbewahrungsort für eine systematisch geordnete Sammlung von Büchern. Wie würden Sie die moderne Universitätsbibliothek definieren?

Wir haben immer noch die Aufgabe, Informationen zu besorgen, zu erschließen, suchbar zu machen und zu vermitteln, aber die Bibliotheken haben sich durch die Digitalisierung komplett verändert. Wir entwickeln digitale Infrastrukturen rund um das Informationsmanagement und arbeiten dazu mit anderen Akteuren in der Universität zusammen. Auch unsere Räume haben sich sehr verändert: Wir haben Lesesäle und Arbeitsplätze für unterschiedliche Nutzungsszenarien. Wir haben die Bibliothek zu einem Begegnungsort umgebaut.

Bei ihrem Amtsantritt haben Sie gesagt, die Überführung der Bibliothek ins digitale Zeitalter sei Ihre wichtigste Aufgabe. Wie meinen Sie das?

Natürlich haben wir weiterhin gedruckte Bücher im Bestand, aber die Bibliothek ist schon in sehr vielen Bereichen digital. Das betrifft die Workflows, die technischen Methoden, auch der größte Anteil unseres Informationsbestands, den wir kaufen, ist digital. Dennoch ist dieser Prozess der Digitalisierung noch lange nicht abgeschlossen, im Gegenteil: Wir stehen vor einem Sprung zu neuen Möglichkeiten durch die künstliche Intelligenz. Und wir sind selbst auch Treiber für Forschung und Innovationen im Bereich der digitalen Informationsversorgung.

Was ist denn ein Beispiel für einen digitalisierten Workflow?

Früher wurden Bücher oder Zeitschriften gedruckt geliefert und Bibliothekare haben erfasst, wer was geschrieben hat. Diese Daten kommen heute großteils als Metadaten schon von Drittanbietern zusammen mit den physischen Einheiten zu uns. Wir sind richtige Datenmanager geworden: Wir bringen diese globalen Daten in unsere Systeme und versehen sie mit lokalen Informationen, etwa wo die Publikationen bei uns in der Bibliothek stehen.

Sie haben eben künstliche Intelligenz (KI) erwähnt. Wie kann KI Ihnen bei der Arbeit mit Daten helfen?

Es ist immer schön, sagen zu können, wir haben eine Inkunabel digitalisiert, ein wertvolles Buch im Internet sichtbar gemacht. Das waren die großen Projekte der letzten zehn Jahre. Heute geht es darum, diese Digitalisate mit KI in Form von maschinellem Lernen tiefer zu erschließen. Metadaten stehen mit weiteren Daten, Bildern und Volltexten untereinander in Beziehung und werden so technisch aufbereitet, dass sie optimal auffindbar und über Schnittstellen vernetzbar und für die KI-Modelle der Zukunft anschlussfähig sind. Daraus ergeben sich neue Möglichkeiten für Forschungsfragen, auch solche, die man sich heute noch nicht vorstellen kann.

Es geht also grob gesagt um den Unterschied, ob man ein Dokument in Gänze einscannt oder die Inhalte auch auslesbar macht?

Ja, genau. Wir haben Handschriften, in denen stehen wichtige Informationen an der Seite oder sie sind in unterschiedlichen Schriften und Sprachen verfasst. Zusätzlich gibt es an der Universität eine Fülle an analogen Materialien, die es zu erschließen gilt. Neben KI-Modellen ist dabei noch viel intellektuelle Handarbeit nötig. Dafür haben wir Kooperationsprojekte mit den Fachbereichen vor Ort und mit Partnerbibliotheken, die hier auch überregional als Informationsanbieter zusammenarbeiten.

Wie ist der Stand bei Open Access?

Open Access war das große Schlagwort der letzten 20 Jahre: Öffentlich finanzierte Forschung soll auch kostenfrei zugänglich sein. Das war zunächst ein Reizthema mit Partnern der Verlagsindustrie, bis sich neue Geschäftsmodelle dafür entwickelt haben. Leider hat sich das nicht großflächig auf eine Senkung der Kosten für Informationsmittel ausgewirkt. Die Bibliotheken haben das Thema für sich angenommen und eigene Dienste entwickelt – Open Access und wissenschaftseigene Infrastrukturen dafür sind mittlerweile überall gesetzt. Inzwischen kommt vermehrt die Frage nach einem selbstverantwortlichen und nachhaltigen Umgang auch in Sachen Datensouveränität hinzu: Die Wissenschaft muss die Verantwortung dafür selbst übernehmen. Wir können uns nicht in allen Bereichen auf Verlagspartner verlassen, sondern müssen eigene Infrastrukturen aufbauen, die offen und kompatibel sind und die Möglichkeiten von Text- und Data-Mining und von KI-Anwendungen im Dienste der Forschung ohne kommerzielle Absichten gewährleisten. Dafür sehe ich die Universität mit der Diskussion um eine eigene Open Science Policy auf einem sehr guten Weg.

Open Science…

… ist die gute wissenschaftliche Praxis mit digitalen Methoden, das betrifft das Datenmanagement als Ganzes. Es geht um Transparenz und den Einblick in die Prozesse, die für die Nachvollbarkeit der Forschungsergebnisse nötig sind. Open Science ist auch interessant, um die Gesellschaft in die Forschung einzubeziehen – unter dem Stichwort „Citizen Science“ entstehen Projekte, in denen sich Bürgerinnen und Bürger an Forschungsfragen und der Erarbeitung von Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen beteiligen. Ich fände es sehr schön, mal ein Projekt in diesem Bereich zu machen. Das haben wir meines Wissens bislang noch nicht.

In welche Richtung könnte so ein Citizen-Science-Projekt in Tübingen gehen?

Die Bibliothek würde für ein solches Projekt voraussichtlich an ihre eigenen Bestände anknüpfen. Wir haben gerade im Schloss eine große Inkunabelausstellung eröffnet. Die dort ausgestellten Bücher aus dem 15. Jahrhundert sind unsere größten Schätze und schon lange digitalisiert im Internet auffindbar, aber wir machen die Ausstellung, um die Leute für das Kulturobjekt selbst zu begeistern. Diese wertvollen Bestände bieten sich für ein Citizen-Science-Projekt an.

Welche konkreten Projekte wollen Sie umsetzen?

Wir haben viele Publikationsplattformen, auch einen eigenen Universitätsverlag, und die Bibliothek führt zudem die Universitätsbibliografie. Diese Dienste wollen wir sowohl von Seiten der Infrastrukturen konsolidieren und modernisieren als auch durch integriertes Informationsmanagement personalisieren und für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an eigene Forschungskontexte anschlussfähiger machen. Das ist sehr aufwändig, weil hier viele Prozesse zusammenlaufen und es Schnittstellen zu anderen Informationsdatenquellen erfordert, etwa vom Rechenzentrum – da sind wir dabei, ein großes Projekt zu konzipieren.

Was muss in ihrem ersten Jahr zumindest auf den Weg gebracht sein?

Wir haben in den ersten Wochen einen Workshop mit den Abteilungsleitungen gemacht und überlegt: Was für ein Verständnis von der Zusammenarbeit haben wir, was ist unsere Vision für 2030? Daraus entstehen dann unsere Strategien, Ziele und Maßnahmen für die nächsten Monate und Jahre. Erste Teile dieses Fahrplans haben wir bereits erstellt. Auch die Kolleginnen und Kollegen sind aufgefordert, ihre Vorstellungen einzubringen. In meinen ersten 100 Tagen habe ich mit allen gesprochen und sie gefragt, was eine moderne wissenschaftliche Bibliothek aus ihrer Sicht ist. Wir haben Arbeitsgruppen gegründet um gemeinsam festzulegen, welche Kommunikationswege wir haben wollen, welche Werte uns wichtig sind. Ich möchte in diesem Jahr auf jeden Fall noch ein gemeinsames Commitment of Understanding verabschieden. Und wir haben einen Innovationspool gemacht, in den jede und jeder ganz niedrigschwellig eigene Ideen einbringen kann. Was hat man schon immer vermisst oder was wäre ein Wunsch? Ich hoffe, wir können von den eingereichten Vorschlägen einiges realisieren, und werden in jedem Fall zu allen Punkten Feedback geben.

Wie wichtig ist Ihnen die UB als physischer Ort? Haben Sie Pläne zur Umgestaltung der Gebäude?

Hier könnte man sehr viel verbessern und es hängt natürlich auch davon ab, wie weit die Universitätsleitung hier mitgehen möchte. Mit Bonatzbau, Hauptgebäude, Ammerbau und Waschhalle besteht die Bibliothek aus vier Gebäuden, die alle aus einer eigenständigen Motivation heraus erbaut und zusammengebracht wurden. Daher fehlt der Bibliothek eine übergreifende gestalterische Idee und es gibt Ecken, die man in den letzten Jahren nur punktuell umbauen und renovieren konnte. Heute sind Bibliotheken stark frequentierte Orte und vielfach das Herz in einem universitären Campus und es wäre sehr schön, wenn man die Gebäude der Bibliothek jetzt noch einmal neu „erfinden“ und zusammen denken könnte. Ich denke da auch an unsere Fläche vor der Bibliothek: Wenn die neue Mensa nun im Herbst eröffnet wird und ein neuer Campusplatz entsteht, könnte man diese Außenräume daran anschließen. Das wäre einfach sehr schön und dann betritt man die Bibliothek schon mit einem Lächeln.

Das Interview führte Tina Schäfer