Uni-Tübingen

Was Hexereiprozesse über Ökonomie offenbaren

Der Wirtschaftshistoriker Jörg Baten untersucht Gewalt, Bildung und Wachstum über die Jahrtausende. Dafür bedient er sich ungewöhnlicher Methoden.

Ökonomen rechnen normalerweise mit Preisen, Kosten und Gewinnen. Sie rechnen mit Körpergrößen oder Altersangaben bei Hexereiprozessen. Warum?

Wir wollen Jahrhunderte und sogar Jahrtausende erforschen, die mangels Daten und mit den üblichen ökonomischen Modellen nicht analysiert werden können. Dadurch sind erstmals Antworten auf Fragen möglich wie: Welchen Einfluss hat die Gleichstellung von Frauen in den vergangenen 500 Jahren auf das Wirtschaftswachstum in einer bestimmten Region gehabt? 1

Und?

Wir können klar einen positiven Einfluss einer relativ guten Position von Frauen nachweisen. Frauen waren die Lehrerinnen der Kinder in Zeiten, als es noch keine Schule gab – und trugen somit erheblich zur Bildung von „Humankapital“ bei, wie wir Ökonomen sagen. Je mehr Arbeitserfahrung die Frauen selbst sammeln konnten, desto mehr konnten sie an ihre Kinder weitergeben. Die Wachstumsraten verschiedener Regionen haben sich auch wegen dieses Bildungseffekts unterschieden.

Wie messen Sie die Bildung von Frauen? Schulzeugnisse standen Ihnen ja wahrscheinlich nicht zur Verfügung.

Nein, so einfach ist das nicht. Im 17. oder 18. Jahrhundert lernten nur wenige Leute Lesen, Schreiben und Rechnen. Die meisten Menschen waren Analphabeten. Schulzeugnisse gab es nicht. Dennoch unterschieden sich die „numerischen Fähigkeiten“ erheblich von Region zu Region. Damit meinen Wirtschaftshistoriker, ob sich Menschen unter Zahlen etwas vorstellen können und ein Gefühl für Größenverhältnisse und Wahrscheinlichkeiten haben. Wir können numerische Fähigkeiten von Frauen zum Beispiel durch ihre Altersangaben bei Hexereiprozessen einschätzen. Bei Verhören wurden die Angeklagten nach ihrem Alter gefragt, und die Inquisitoren dokumentierten ihre Antworten. Wenn eine Frau angab, sie sei 60 Jahre alt, dann bedeutete das entweder, dass sie tatsächlich 60 war – oder dass sie nur ungefähr 60 war und ihr Alter schätzte. Wir sehen bei vielen Antworten aus einer Region, ob Frauen häufig in Zehner- oder Fünferschritten rundeten – also wenig numerische Fähigkeiten besaßen –, oder ob sie präzise Altersangaben machen konnten. Regionen, in denen Frauen besser mit Zahlen umgehen konnten, waren auch Regionen, die sich über die Jahrhunderte wirtschaftlich besser entwickelten. Diesen Zusammenhang konnten wir statistisch nachweisen.

Was nützt uns diese Methode heute?

Wir arbeiten an unserem Lehrstuhl beispielsweise mit den Vereinten Nationen für deren „Global Education Monitoring“ zusammen, also einer globalen Übersicht über das Bildungsniveau nicht nur von Kindern, sondern auch von Erwachsenen. Aus Untersuchungen zur Rundung bei Altersangaben lässt sich ableiten, in welche Region Entwicklungshilfe zuerst fließen soll, weil dort die größten Effekte zu erwarten sind – zum Beispiel: ins nördliche Nigeria oder in den Norden Burkina Fasos? Auch für den Erfolg von Malaria- Programmen kann es hilfreich sein, die numerischen Fähigkeiten von Menschen in einer Region zu kennen: Je stärker sie ausgeprägt sind, desto eher wirken Malaria-Programme – weil die Empfehlungen und Vorgaben von Ärztinnen und Ärzten besser genutzt werden. Diesen Zusammenhang erforschen wir derzeit mit dem Institut für Tropenmedizin der Universität Tübingen. 

Welche Schlüsse ziehen sie aus unterschiedlichen Körpergrößen?

Die Körpergröße sagt viel über die Ernährung und die Gesundheit von Menschen in einer Region aus. Je besser die Ernährung, desto größer werden die Menschen. Und je größer die Abweichung von der durchschnittlichen Körpergröße, desto größer die Ungleichheit in einer Gesellschaft. Wir können auf Knochenfunde aus Jahrtausenden zurückgreifen und haben so genug Daten für Aussagen über die Körpergröße. In den vergangenen zwanzig Jahren funktioniert der Indikator für die reichsten Länder durch die durchweg gute Ernährung allerdings nicht mehr so gut. Aber in den Jahrhunderten und Jahrtausenden zuvor können wir recht zuverlässige Schlüsse ziehen. Sogar über die Wahrscheinlichkeit für den Ausbruch eines Bürgerkriegs.

Wie das?

Beispielsweise stiegen in den Jahrzehnten vor dem US-amerikanischen Bürgerkrieg 1861–65 die Unterschiede der Körpergröße zwischen ungelernten Arbeitern und höheren Einkommensgruppen von 1,6 auf 3,0 Zentimeter an. Diese Zunahme der Unterschiede deutet auf eine deutlich ungerechtere Verteilung von Einkommen hin.2  

Wenn die Ungleichheit in einem Land zunimmt – gemessen an der Körpergröße –, steigt die Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg in diesem Land? 

Das ist der Schluss unserer Analyse über die vergangenen zweihundert Jahre in 150 Ländern der Erde. Wir haben daraus ein Prognosemodell für den Ausbruch eines Bürgerkriegs entwickelt. Heute haben wir zusätzlich zur Körpergröße auch die tatsächlichen Einkommensdaten der Länder weltweit zur Verfügung.


Vertrauen und Verträge sind wichtig, wenn die Wirtschaft wachsen soll.


Wo steigt derzeit die Ungleichheit? 

Zum Beispiel in Großbritannien, China, Indien und Russland. Auch in den USA, dort ist die Ungleichheit vom vergangenen auf das aktuelle Jahrzehnt stark angestiegen, und damit hat die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkrieges von 10 auf 21 Prozent zugenommen.

Also hat sich das Risiko eines Bürgerkrieges in den USA verdoppelt?

Ja, das ist eine dramatische Erhöhung der Wahrscheinlichkeit für einen Bürgerkrieg. Aber natürlich entscheiden viele anderen Variablen darüber, ob ein Bürgerkrieg tatsächlich ausbricht: Gab es in einem Land schon früher gewaltsame Konflikte? Welche Anstrengungen unternimmt die Gesellschaft auf der Suche nach Kompromissen? Wie etabliert sind demokratische Verfahren? Mit zunehmender Ungleichheit sinkt allerdings die Bereitschaft für Kompromisse und die Akzeptanz der Demokratie. Deswegen ist der Indikator so interessant.

Wieso befassen Sie sich als Ökonom mit Gewaltstatistiken?

Wenn Sie hier aus dem Gebäude treten und es schlägt Sie jemand nieder, verringert sich ihre Wohlfahrt erheblich – völlig unabhängig von Ihrem Einkommen. Außerdem sinkt Ihr Vertrauen in Ihre Mitmenschen. Sie werden misstrauischer. Vielleicht gehen Sie deutlich zögerlicher Verträge ein. Vertrauen und Verträge sind aber wichtig, wenn die Wirtschaft funktionieren soll. Wirtschaftshistoriker machen sich viele Gedanken, was ein hohes oder ein etwas weniger hohes Niveau von Gewalt mit dem Wirtschaftswachstum macht. 

Wie wenden Sie diese Methode an?

Wir haben zum Beispiel untersucht, welche Auswirkungen die Entstehung von Städten in Mesopotamien auf die Gewalttätigkeit und damit die Wohlfahrt dieser Gesellschaften hatte. Dafür haben wir Tausende eingeschlagene Schädel untersucht, zertrennte Knochen oder Skelette, in denen Pfeilspitzen steckten.3  Der amerikanische Psychologe Steven Pinker argumentiert, dass über die Jahrtausende die Gewalt kontinuierlich abgenommen hat.4 Unsere Analysen zeichnen ein facettenreicheres Bild. Zum Beispiel ist nach der ersten Stadtgründung von Uruk und bei ähnlichen Städten in Mesopotamien eine sehr starke Zunahme der Gewalt festzustellen. Für diese statistische Auswertung von Knochenfunden sind die statistischen Methoden der Wirtschaftswissenschaften sehr hilfreich.

Wie überzeugen Sie Studentinnen und Studenten, sich für Wirtschaftsgeschichte zu interessieren?

Ich sage ihnen, dass sie die statistischen Methoden sehr gut und praktisch lernen und diese zum Beispiel in vielen internationalen Organisationen gebraucht werden.


Wirtschaftshistoriker machen sich viele Gedanken, was ein hohes und weniger hohes Niveau von Gewalt mit dem Wirtschaftswachstum macht.


Professor Jörg Baten hat mit einem Wirtschaftsgeschichte- und Informatikstudium in Freiburg begonnen und ist dann zu den Wirtschaftswissenschaften nach München gewechselt. 

Seit 2001 hat er den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Tübingen inne. Viele Jahre war er Generalsekretär der International Economic History Association.


1 Joerg Baten, Alexandra M. de Pleijt, „Female autonomy generated successful long-term human capital development: Evidence from 16th to 19th century Europa, World Development, October 2022. https://doi.org/10.1016/j.worlddev.2022.105999 

2 Laura Radatz, Jörg Baten: „Measuring Multidimensional Inequality and Its Impact on Civil War Out-break in 193 Countries, 1810-2010”, Review of Income and Wealth, 2025, https://doi.org/10.1111/roiw.70016 

3 Jörg Baten et al.: "Violence Trends in the Ancient Middle East between 12,000 and 400 BCE", Nat Hum Behav, 7, 2023, https://doi.org/10.1038/s41562-023-01700-y 

4 Steven Pinker: „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ / „The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined“, 2011, New York

 

Text: Tilman Wörtz


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